Von Stefan Sasse
Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen - das kam plötzlich. Als Hannelore Kraft 2010 die erste Minderheitenregierung in einem westdeutschen Flächenstaat bildete, prophezeiten viele Beobachter eine kurze Regierungszeit. Nun hat es fast zwei Jahre gehalten; ähnlich lange wie Schwarz-Grün in Hamburg oder Jamaika im Saarland, die beide über Mehrheiten verfügten. Das typisch deutsche Vorurteil, dass nur regieren kann, wer eine "stabile" Mehrheit hat (wir Deutschen lieben Stabilität), wurde dadurch eindrucksvoll widerlegt, umso mehr, als dass die Umstände dieser Neuwahlentscheidung nachgerade albern sind. Es ging, einmal mehr, um die Entscheidung über den kommenden Haushalt. Bereits vorherige Krisen der rot-grünen Regierung hängten sich daran auf, und jedes Mal fanden sich nach ritualisiertem Widerstand einige Stimmen in der Opposition. FDP und LINKE hatten wohl auch dieses Mal die Hoffnung, ein wenig Symbolpunkte abgreifen zu können, ehe man zustimmte. Die FDP forderte Kürzungen, die LINKE höhere Schuldenaufnahme, business as usual. Dann platzte plötzlich die Nachricht von der juristischen Abteilung des Landtages herein: eine Ablehnung von Teilen des Etats wäre als eine Ablehnung des ganzen Etats zu werten, eine fest eingeplante dritte Lesung des Gesetzes, bei der man es dann annehmen könnte, findet nicht statt. Es war wohl ein klassischer Rick-Perry-Moment für FDP und LINKE: Ups.
Denn getreu den Spielregeln der Auseinandersetzung in der parlamentarischen Arena hatte man mehrmals betont, keinesfalls der aktuellen Variante zuzustimmen, niemals und nimmer, und lieber Neuwahlen in Kauf zu nehmen. Alles oder nichts, auch das liebt der Deutsche. Und normalerweise wäre ja noch ein Scheinkompromiss bis zur finalen Entscheidung möglich gewesen, mit dem sich alle Leute als Sieger präsentieren können. Nur, dieses Mal kam die Formsache dazwischen und machte einen dicken, fetten Strich durch die Rechnung. Für FDP und LINKE kommt die Entscheidung extrem ungelegen, denn laut aktuellen Umfragen werden sie reichlich sicher die Fünf-Prozent-Hürde verfehlen, während die Piraten Chancen haben, ins Parlament zu kommen. Die CDU dagegen, die von Anfang an vollen Oppositionskurs fuhr, dürfte marginal von Neuwahlen profitieren - aber nicht so sehr, als dass es nicht für eine Regierungsbildung von Rot-Grün reichen würde, dieses Mal mit eigener Mehrheit, ein Umstand, der dem Spitzenkandidaten Röttgen durchaus lieb sein dürfte. Wenn im Mai der neue Landtag gewählt wird und sich die Voraussagen der Demoskopen bewahrheiten, dürften bei Rot-Grün die Korken knallen und ein Toast auf die Kollegen von FDP und LINKEn ausgesprochen werden, die da ein verspätetes Osterei in den Korb gelegt haben.
Natürlich werfen sich sowohl die Liberalen als auch die Linken ordentlich in Pose und ziehen die "Prinzipien sind wichtiger als das Mandat"-Nummer ab, aber wer glaubt ihnen das schon ernsthaft? Es ist die eigene Legendenbildung, mit der man auch dem zu erwartenden Unmut der eigenen Leute entgegentreten kann. Wer will schon prinzipienlos genannt werden? Da lieber gute Miene zum bösen Spiel. Für die Bundes-CDU kommt es aber extrem ungelegen, weil allerlei Analogien zu 2005 gezogen werden können: der Zeitpunkt der NRW-Wahl und ihr richtungsweisender Charakter decken sich unangenehm deutlich mit Schröders Kanzlerschaft. Obwohl kaum anzunehmen ist, dass Merkel ähnlich das Handtuch wirft, wird dieser Vergleich wohl eine Weile die Schlagzeilen bestimmen und ihr zu schaffen machen. Und die SPD? Die kriegt mit Hannelore Kraft eine Frau (in Zeiten der akuten Quotendiskussion nicht zu vernachlässigen), und das Trio aus Steinbrück, Steinmeier und Gabriel bekommen erneut schmerzlich vorgeführt, dass sie noch nie eine Wahl gewonnen haben. In all diesen Vorgängen liegt, irgendwie, eine gewisse poetische Gerechtigkeit.