Vor 12 Tagen habe ich hier drei in meinen Augen sehr wesentliche Lebensfragen gestellt. Und wie versprochen, werde ich sie nun auch selbst beantworten. Lass mich hier und jetzt mit der ersten beginnen: Was bedeutet für mich ein gelungenes und erfülltes Leben, und was bin ich bereit, heute dafür zu tun?
Im November 2008 starb nach langer Krankheit einer meiner Cousins. Wolfgang war gerade mal 56 Jahre jung. Er war immer eines der lebenslustigsten und fröhlichsten Mitglieder unserer Familie, und lange konnte ich nicht begreifen, warum wir gerade von ihm so früh Abschied nehmen mussten.
Heute habe ich ein wenig Abstand gewonnen und verstehe die Worte Khalil Gibrans besser: »Am Grunde des Herzens eines jeden Winters liegt ein Frühlingsahnen, und hinter dem Schleier jeder Nacht verbirgt sich ein lächelnder Morgen.«
In diesem Sinne ist jede Trauer vergleichbar mit einer Wanderung durch eine dunkle, sternenlose Nacht. Du kannst Dich nur schwer orientieren und hast keinen Weitblick. Irgendwann jedoch beginnt die Dämmerung und im ersten Morgengrauen nimmst Du Deine Umgebung wieder wahr und kannst ganz bewusst den Weg auswählen, den Du gehen willst. Und auf diesem Weg bist Du nicht allein.
Durch diese Erfahrung einmal mehr wachgerüttelt, stellte ich mir die Frage:
Was, wenn heute der letzte Tag meines Lebens wäre?
Natürlich wünsche ich mir, dass ich – gemeinsam mit Ulrike – lange leben kann. Ich stelle mir gerne vor, was ich alles tun könnte, wenn ich mit achtzig oder neunzig oder gar hundert Jahren noch geistig wach wäre. Ich möchte in Würde alt werden und die Weisheit des Alters erlangen. Und doch weiß ich, dass jeder Tag der letzte sein könnte. Wie schnell so etwas geschehen kann, habe ich ja bereits am eigenen Leibe erfahren dürfen. Vielleicht hast Du meinen Bericht Zum Leben erwacht ja schon gelesen. Es ist also durchaus sinnvoll, mir immer wieder diese Frage zu stellen. Denn so hypothetisch sie auf den ersten Blick erscheint, glaube ich doch, dass meine persönliche Antwort darauf mir sehr wichtige Hinweise auf meine eigentliche Richtung im Leben und meine wahren Werte und Prioritäten geben kann. Was ich an meinem letzten Tag tun würde, zeigt auch deutlich, was ich unter einem gelungenen Leben verstehe.
Wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte, würde ich jeden Moment davon genießen und für das Wesentliche nutzen; für die Dinge, die mich beflügeln und inspirieren; für die Dinge, die mir wichtig sind. Wenn heute der letzte Tag meines Lebens wäre, würde ich aufmerksamer sein. Ich würde bewusst den Tag beginnen und dankbar sein, dass ich noch einmal am Leben teilhaben darf. Ich würde bewusst aufstehen und mich auf diesen funkelnagelneuen Tag freuen. Ich wäre neugierig auf das, was er mir bringt und würde vom ersten Moment des Erwachens in die Geheimnisse des Lebens hineinhorchen, um noch einmal etwas von dem Sinn zu erahnen, der darin verborgen ist. Was ich an meinem letzten Tag wohl erleben werde? Ich wäre zu allem bereit und würde alles bewusst und achtsam tun und jeden Augenblick ganz auskosten.
Am letzten Tag meines Lebens würde ich viel Zeit mit mir selbst verbringen, um dankbar auf mein Leben zurückzublicken. Ich würde meinen Frieden damit machen. Ich würde mir überlegen, was ich noch erledigen möchte. Wo ist noch etwas unklar in meinem Leben? Wofür sollte ich mich entschuldigen? Was sollte ich mir selbst und anderen vergeben? Ich möchte sterben, wie ich zu leben versuche – in innerer Freiheit!
An meinem letzten Tag würde ich noch einmal hinausgehen in die Natur und auf all die Wunder achten, die mich überall umgeben. Beim Spazierengehen würde ich den Duft der Blumen wahrnehmen, die Schönheit der Wiesen und Wälder. Ich würde die Vögel zwitschern hören. Ich würde mich an einen Bach setzen und das Wasser beobachten, wie es immer weiter fließt, wie es aus einer unerschöpflichen Quelle zu strömen scheint. Ich würde mich noch einmal an diesem Frühlingstag erfreuen, an der Fülle des Sommers, am goldenen Herbst oder an der Wintersonne, die die weiße Schneelandschaft bestrahlt. Und ich würde darauf achten, was die Natur mich zu lehren hat, denn auch an meinem letzten Tag will ich noch ein Stück wachsen und der Weisheit näher kommen.
Wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte, würde ich versuchen, so glücklich wie möglich zu sein und die kleinen Freuden des Lebens, die mir auch heute wieder geschenkt werden, bewusster wahrzunehmen. Ich kann durch so unendlich viele Dinge Freude erfahren. Dazu gehören auch die Werke der Kunst. An meinem letzten Tag würde ich mich deshalb auch mit Literatur, Malerei oder Musik beschäftigen. Noch einmal in meinem Lieblingsbuch blättern oder ein Gedicht schreiben; noch einmal eine Kunstausstellung besuchen oder selbst etwas zeichnen, das meiner Stimmung entspricht; noch einmal den wundervollen Klängen eines großen Komponisten lauschen. Es ist vor allem ein Gedicht, das ich an meinem letzten Tag lesen will: »Stufen« von Hermann Hesse. Es würde mir die Zuversicht geben, dass die nächste Stufe meiner Entwicklung auf mich wartet.
Wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte, würde ich besonders partnerschaftlich, liebevoll und ehrfurchtsvoll mit mir, meinen Mitmenschen und meiner Mitwelt umgehen. Ich würde mir überlegen, mit welchen Menschen ich heute zusammentreffen möchte. Indem ich darüber nachdenke, mit wem ich meinen letzten Tag gerne verbringen will, wird mir klar, welche Beziehungen wirklich tragen und wo ich anderen letztlich fremd geblieben bin. Ich würde den Menschen, denen ich begegne, sagen, was sie mir bedeuten, was sie in mir ausgelöst haben, welche Erinnerungen mir wichtig sind. Und ich würde ihnen danken für alles, was ich durch sie erfahren und gelernt habe, was sie in mir angestoßen haben und wo sie mir die Augen für das Eigentliche geöffnet haben. Ich würde ihnen sagen, wie ich sie sehe, was ich als das Einmalige und Besondere in ihnen erkenne.
Einer dieser Menschen – ja der liebste überhaupt – ist natürlich Ulrike. Vor meinem inneren Auge stelle ich mir die Begegnung mit ihr vor. Ich schaue sie an, ich halte schweigend ihren Blick aus. In diesem Blick ist schon alles gesagt. Da ist Liebe. Da strömt etwas zwischen uns. Da ist Einverständnis, Dankbarkeit, Staunen über das Geheimnis der Liebe, das uns miteinander verbindet. Und ich weiß, dass unsere Freundschaft durch nichts zerstört werden kann, dass sie alles überdauert, dass sie bis in die Ewigkeit hinein reicht. Ich möchte sagen, was ich mit meinem ganzen Leben vermitteln wollte und was ich gerade Ulrike nochmals zum Abschied mitgeben will. Ich möchte Worte sagen, die Zeit und Raum überdauern. Und es sollen Worte sein, die ausdrücken, was mir in diesem Leben wichtig war, was die stärkste Antriebsfeder für mein Leben war und was ich im Tiefsten meiner Seele ersehnte.
Überhaupt: Wenn ich mir die Gespräche vorstelle, die ich am letzten Tag meines Lebens führen möchte, dann spüre ich die Tendenz, dass ich sorgfältig die Worte auswähle, dass ich nochmals die wichtigste Botschaft formulieren möchte, die ich mit meiner ganzen Persönlichkeit vermitteln wollte. Wenn ich mir überlege, was ich mit meinem Leben ausdrücken möchte, dann kommen mir Worte in den Sinn wie:
Ich wollte allen Menschen zeigen, dass es wichtig ist, den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Leben und leben lassen: das möchte ich als letzte Botschaft an andere hinterlassen!
Es gäbe noch viel zu sagen. Viele Gedanken sind nur angedacht. Vieles bleibt noch offen. Dieses Nachdenken über meinen letzten Tag löst sehr viel aus. Eines scheint mir dabei besonders wichtig: Ich möchte das Gespür für das Wesentliche, das mir dabei geschenkt wird, hinüber retten in mein tägliches Leben. Dann würde ich Gespräche anders führen. Dann würde ich meine eigenen und die Maßstäbe anderer zurechtrücken können. Da würde sich manches in Wohlgefallen auflösen. Über manches könnte ich getrost lachen. Ich spüre, dass da eine andere Qualität in mein Leben käme. Ich würde das sehen, worauf es eigentlich ankommt. Und vielleicht könnte ich es so in Worte fassen, dass auch dem anderen die Augen aufgehen, dass er unter dem Blickwinkel der Ewigkeit alles in einem anderen Licht sieht. Möglicherweise besteht darin die Bestimmung, die ich in diesem Leben habe. Vielleicht wurden mir deshalb die Talente geschenkt, das Gute im Leben zu sehen und es in Worte kleiden zu können. Denn Gaben sind immer auch Aufgaben.
Liebe Leserin, lieber Leser, ich möchte mich für heute mit einem Wort Christian Fürchtegott Gellerts verabschieden: »Lebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst, gelebt zu haben.« – Dein Jürgen