Foto:Kung Shing - Ein einsamer Strandkorb: Da bekomme ich Lust mich reinzusetzen.
SoSUE Redakteur Knuth Stein über das Designwunder Strandkorb. Ein Flechtwerk aus Geschichte und Urlaubserinnerungen.
Im Winter haben die Kopfweiden Ruhe.
Ideen haben nie Ruhe.
Im Frühjahr 1882 kam ein Wind aus Schweden über die Ostsee herüber. Er würzte die Luft in Rostock. Die Brise ging durch die Kleidung. Manche Menschen erinnerte er daran, dass sie Rheuma hatten. Es war bisher kein aufregendes Jahr. Der Winter war mild gewesen, trotzdem freuten sich die Menschen auf den Frühling. In den Zeitungen lasen sie von einem Spanier namens Antoni Gaudi, der in Barcelona den Grundstein für eine Kathedrale legte. Sie sollte anders werden, als alle Kirchen davor.
Wilhelm Bartelmann interessierte das alles nicht. Er war mit seiner Konstruktion beschäftigt. Der Hof-Korbmeister wollte die Menschen am Ostseestrand besser vor Wind schützen. Er kannte den Strand bei Warnemünde gut. Auch wenn die Wellen nur flap-flap machten und die Sonne schien, der Wind wehte immer. Gänsehaut unter feinen Tuch oder grober Wolle gab es auch im Sommer. Ein paar Wochen lang hatte er zusammen mit seinen Gesellen an dem Ding gearbeitet. Nicht alles klappte auf Anhieb. Immer wieder mussten sie sich etwas Neues einfallen lassen. Jetzt waren sie fertig.
Bartelmann fuhr mit seiner Hand über das Geflecht. Keine Fehler. Keine Risse. Die Ruten waren gut verarbeitet. Er lächelte. Der erste Strandkorb der Welt war fertig. Sein zweisitziger Strandstuhl aus Weidengeflecht, mit Seitentischen, Markisen und Fußstützen, war der perfekte Schutz vor Wind und Sonne. Er zeigte den Strandkorb seiner Frau Elisabeth. Sie probierte ihn aus. Tadellos. Genau richtig für einen Tag am Meer. Sie witterte das große Geschäft: Der Strandkorb wird eine Sensation werden. Einen Sommer später eröffnete sie in Warnemünde die erste Strandkorbvermietung. Das Geschäft lief gut. Alle Feriengäste wollten fortan die Sommerfrische an der Ostsee in einem Strandkorb von Bartelmann verbringen.
Foto: Kung Shing - Plastikkorb: Heute werden Strandkörbe überwiegend aus Plastik hergestellt.
Viele Jahrzehnte später.
1978 - Urlaub an der Nordsee. Über Wilhelm Bartelmann sprach damals keiner mehr. Über Antoni Gaudi sprachen sie immer noch, die Kathedrale war immer noch nicht fertig. Ich stand am Strand und beobachtete die Wellen. In meiner neuen „Stars-and-Stripes-Badehose“ fühlte ich mich ein wenig verloren. Meine Mutter richtete sich häuslich im Strandkorb ein und machte es sich bequem. Dann zeigte sie auf die Sandburg der Nachbarn. So etwas hätte sie auch gerne. Der Sandwall sollte auch genauso hoch sein und ebenfalls reichlich Muschelschmuck tragen. Ich schaute rüber und überlegte, woher ich einen Bagger bekommen sollte. Außerdem bekam ich Zweifel, ob es am Strand noch Muscheln gab, denn alle Sandburgen waren reich verziert. Jeder Burgherr schien einen Hang zum Barocken zu haben. Meine Mutter wusste es besser und drückte mir einen Spaten in die Hand. Ich fing an zu schaufeln und meine Schwestern zogen los, um Muscheln zu sammeln. Unser Sandwall wuchs. Langsam versank der Strandkorb im Sand. Gaudi wäre mit mir zufrieden gewesen.
Für uns Kinder war der Strandkorb unser zu Hause am Meer. Er schützte unsere Pommes rot-weiß vor sandigen Windböen. In seinem Schatten spielten wir Quartett. Verschliefen auf der Sitzbank in klammen Handtüchern den Nachmittag. Am Abend verwahrte er unsere Strandutensillien. So lange ich denken kann, gab es keinen Urlaub an der Ostsee oder Nordsee ohne Strandkorb. Er gehört einfach dazu. Für uns Norddeutsche ist der Strandkorb ein Sofa mit anderen Mitteln. Hier können wir uns unter dem Himmel gehen lassen. Das Flechtwerk sorgt für Intimität, dass sich Menschen sogar dazu hinreißen lassen, sich gegenseitig Hautunreinheiten zu entfernen. Ganze Familien scheinen damit beschäftigt zu sein. Der Strandkorb macht uns wieder zum Höhlenbewohner.
Wilhelm Bartelmann hat seine Idee nie patentieren lassen. Er sah sich mehr als Handwerker als Fabrikant. Über 100.000 Tausend Strandkörbe soll es an deutschen Stränden geben. Vor ein paar Jahren war ich verblüfft, als ich nach einer Wanderung in Südtirol einen Strandkorb an einer Seilbahnstation entdeckte. Hier oben auf dem Berg, schien er mir fehl am Platz zu sein. Aber ich freute mich. Ich setzte mich rein und genoss meinen Kaffee. Ich schaute auf die Gipfel. Viele Hundert Meter über dem Meeresspiegel musste ich an meine Sommerferien in klammen Handtüchern denken. Als meergewohnter Wanderer vermisste ich den Horizont, die Brise und das Flap-Flap der Wellen.
Auch Erinnerungen haben nie Ruhe.
Weder Kathedralen noch Strandkörbe können sie aufhalten.
Sie sind wie eine frische Brise.
Foto: Kung Shing - Ein Hauch von Prada: Alte Strandkörbe aus DDR Zeiten mit wilden Mustermix.
Foto:Kung Shing - Hütte mit Meerblick: Strandkörbe an der Ostsee auf Usedom.