Der Arzt

Von Guidorohm

Der Arzt, den sie Herr Doktor nennen, sagt, ich bin schon ganz krank, ich will nicht mehr, ich werde meine Praxis verkaufen, ich kann all die Kranken nicht mehr sehen, ich habe mich zu viele Jahre mit den Krankheiten anderer Leute beschäftigt, haben ihnen in die Mäuler, in die Ohren, in die Augen, in die Ärsche gestarrt,

dabei hätte ich einmal meiner Frau in den Mund, in die Augen und auf den Arsch sehen sollen, aber jetzt ist es zu spät, jetzt ist sie fort, sie hat sich hinter ihre Augen zurück gezogen, weit hinter ihre Augen, ich kann gar nicht bis dorthin reisen, denn da müsste ich schon ein Zauberwesen sein,

aber ich bin nur ein Arzt, ich habe jahrelang Rezeptblöcke bekritzelt, dabei hätte ich unsichtbare Herzen auf den Rücken meiner Frau malen sollen, sagt der Arzt,

er bestellt sich noch einen Wein, bringen Sie mir noch einen Roten, sagt der Arzt, lächelt bitter, sagt, in meiner Jugend hatte ich Ideale, da wollte ich die Welt verändern, in der Zeit lernte ich meine Frau kennen, wir wollten gemeinsam die Welt verändern, wir hatten Pläne, viele wichtige Pläne, wir wollten nach Afrika, nach Indien, den Menschen helfen, wir wollten etwas verändern, aber dann verschlug es uns hierher in die Provinz, man bot mir die Praxis an, ich schlug ein, deshalb verschlug es uns eben nicht nach Afrika oder Indien, wir hätten das tun sollen, dann wäre sie vielleicht nicht verreist, dann wäre sie bei mir geblieben, dann könnte ich jetzt mit ihr sprechen und lachen,

aber sie ist fort, sie ist jetzt in der psychiatrischen Abteilung des Stadtkrankhauses, sie sitzt auf einem Stuhl und sagt nichts, sie nimmt am Leben einfach nicht mehr teil, vielleicht weil das Leben nicht an ihr teil nahm, weil das Leben sie links liegen ließ, weil ich sie links liegen ließ, ich hatte ja immer etwas zu tun, die Praxis lief mit alten Leuten über, die haben immer eine wunde Stelle, viele sind einsam, also sprach ich mit ihnen, während meine Frau allmählich vereinsamte, ich kam nach Hause, war müde, legte mich hin, ich bemerkte überhaupt nicht ihre Reisevorbereitungen, dieses Horten von Tabletten, dabei ist es so einfach, wenn man die Frau eines Arztes ist, sie wollte fort von mir und diesem Leben und der Welt, zum Glück fand ich sie rechtzeitig, ich brachte sie ins Krankenhaus, die sahen sie mit ihren Arztaugen an, da wurde mir zum ersten Mal klar, wie unbarmherzig diese Arztaugen sein können, die sehen in dein Elend rein, die sehen auf den Müll, der sich auf deinem Herzen abgelagert hat, aber sie sehen es sich mit professionellen Augen an, das sind Augen, die das, was sie dort sehen, mit dem was sie gelernt haben, abgleichen, und wenn sie dann keine Heilmethode finden, dann geben sie dir Tabletten, ausgerechnet Tabletten, denn mit Tabletten wollte meine Frau ja verreisen,

das ist ein schauriges Geschäft, ich will gar kein Arzt mehr sein, sagt der Arzt, er greift mach dem Glas Rotwein, das sie ihm in der Zwischenzeit vor die Nase gestellt haben und trinkt einen Schluck, seine Lippen sind vom Rotwein ganz rot, so als hätte er als Vampir an einem Hals gesaugt, er wischt sich mit der Außenhand über die Lippen und sagt dann, aber es muss doch auch Ärzte geben, weil sie den Leuten helfen können, manchmal zumindest, aber manchmal versagen sie auch, ich habe versagt, ich habe die Kranke im eigenen Haus nicht bemerkt, die wurde krank durch meine Arbeit mit zu vielen Kranken, die erkrankte am Leben mit mir und nun ist sie verreist, nun sitzt sie dort im Stadtkrankenhaus und ist in ihrem Kopf auf Reisen, vielleicht holt sie nach, was wir versäumt haben, sagt der Arzt, vielleicht reist sie jetzt nach Afrika und Indien, denn dort wollten wir hin, damals als wir noch jung waren, sagt der Arzt, den sie Herr Doktor nennen,

er sagt, ich bin schon ganz krank, ich will nicht mehr, ich werde meine Praxis verkaufen, ich kann all die Kranken nicht mehr sehen, ich will mich nun um meine Frau kümmern, die ist nämlich gar nicht krank, die ist nur auf einer Reise, ich muss mich beeilen, denn dann kann ich sie noch erwischen, irgendwo dort unten ist sie, er tippt sich an die Stirn, vielleicht in Johannesburg, ich werde sie finden, wo sie auch sein mag, ich werde sie finden und dann reisen wir gemeinsam weiter, sagt der Arzt, den sie Doktor nennen, er sieht aus dem Fenster, es wird Winter, sagt er.

Dann schweigt er.