Der alte Mann und das Internet

Von Stefan Sasse
Das letzte Mal, dass ich in der Debatte um die Neuen Medien einen solchen Tiefpunkt des Niveaus sehen musste wie am Sonntag bei Günther Jauch ist mittlerweile 10 Jahre her, als 2002 die große Debatte über Counter-Strike geführt wurde. Damals gelang es der FAZ, einen Artikel zu veröffentlichen, in dem das Spielprinzip damit erklärt wurde, es gebe Punkte, die man bekomme wenn man auf Schulmädchen schieße. Die Hysterie führte soweit, dass das Spiel (das ab 16 freigegeben ist) vor die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien gezerrt wurde. "Killerspiele" sind inzwischen ein alter Hut, richtig gefährlich dagegen ist - Tusch - "das Internet". "Das Internet" ist in der Vorstellung einer bestimmten Demographie ein düsterer, dunkler Ort, an dem üble Dinge geschehen. Und außerdem, so Manfred Spitzer in seinem Buch "Digitale Demenz", macht es dumm. Spitzer, der alte Mann aus meiner Überschrift, hat am Sonntag bei Jauch Gratiswerbung für sein Buch machen dürfen. Und genau darum ging es ihm auch, denn an einer Diskussion seiner Thesen ist er praktisch nicht interessiert. "Das Internet" macht also dumm, ganz besonders aber "Google". Diese These, die er mit seiner Restreputation als Hirnforscher abstützt, liest sich verkürzt wiedergegeben folgendermaßen: wenn jemand über "Google" etwas lernt - Spitzer nennt als Beispiel etwa Geschichtsdaten für den Unterricht - dann lernt er nicht so gut wie bei "klassischen" Quellen. Das, so Spitzer, liege daran, dass man unterbewusst wisse, dass das Wissen ja "bei Google" liegt und daher gar nicht gelernt werden müsse, weswegen der Suchvorgang dort nicht so effizient sei. Allein diese These ist zum Haareraufen. 
Erstens einmal ist das Herausfinden von historischen Daten ohnehin kein vernünftiger Lernvorgang, was ein Hirnforscher auch wissen sollte, noch in der Schule irgendwie zentral gefragt. Ein Datum herauszufinden ist ein reiner Recherchevorgang; zentral ist, was man danach damit macht. Angenommen, ich weiß nicht mehr, wann der Zweite Weltkrieg begann - wo zur Hölle liegt der Unterschied, ob ich im elterlichen Brockhaus oder bei "Google" nachschaue? In beiden Fällen weiß ich vorher, dass ich das Datum dort finden werde. Ein echter Lernvorgang - etwa, was es mit dem Datum überhaupt auf sich hat und wie es einzuordnen ist - findet erst statt, wenn man sich weiter mit dem Thema beschäftigt. Und der Stichworteintrag im Brockhaus wird da weniger weit bringen als etwa der Wikipediaeintrag oder was man so im Netz noch findet. Letztlich stellt dieses absurde Argument Spitzers aber nur einen Nebenkriegsschauplatz dar. Viel wichtiger ist etwas ganz anderes. 
Spitzer ist ein blasierter Bildungsbürger, der in der praktisch verbindlichen Pose vom Untergang der Kultur ein Weltuntergangsszenario entwirft. Das ist nicht neu, das ist so alt, dass es nicht einmal mehr stinkt. Seit sicherlich zweihundert Jahren droht der Untergang der Kultur durch irgendetwas Neues, und die Vertreter des Alten fühlen sich durch das, das sie nicht mehr verstehen können, bedroht. So ist es auch hier. Man muss nur einmal sehen, wie Spitzer über die Dinge redet - deswegen stehen sie auch oben in Anführungszeichen. Jemand schaut "bei Google" etwas nach oder weiß, dass es "bei Google" steht. Bei Google steht überhaupt nichts, das Ding ist eine Suchmaschine. Und jeder, der einigermaßen häufig im Netz unterwegs ist weiß, dass allein das Herausfiltern passender Ergebnisse aus dem Wust der Treffer bei Google eine Kompetenz für sich darstellt (beziehungsweise das richtige Formulieren der Suchanfrage). Spitzer ist nichts als ein alter Mann, der sein eigenes Leben als absoluten Maßstab setzt. 
Nirgends wird das so deutlich wie in seinem Rant gegen Hollywoodfilme. Denn nicht nur "das Internet" macht dumm, nein, es sind generell alle Medien, die er für unter seinem Niveau hält. Als er mit schwerem Ernst in der Stimme verkündet, dass jeder Blockbuster genau gleich aufgebaut sei und dass man exakt sagen könne, was in welcher Minute geschehe, ohne dass man den Film vorher kenne, da kann man nur noch mit dem Kopf schütteln. Der Mann hat offensichtlich schon länger keinen Film mehr gesehen - zumindest nichts, das auch nur annähernd in Regionen wie "Inception" oder "The Dark Knight" vordringt. Es ist das typische Geschwafel der Bildungssnobs. Herr Spitzer, wollen Sie wissen, bei welchem dramatischen Medium man wirklich exakt sagen kann, was wann wie passiert? Bei den großen Dramen von Schiller, Goethe und Konsorten. Die sind immer exakt gleich aufgebaut. Für die gibt es sogar eine richtige Formel, an die sich die Autoren gehalten haben, und die waren auf die exakte Einhaltung auch noch stolz! Aber das sind ja alte Bücher, und alte Bücher sind per Definition großartig, denn mit nichts lässt sich die eigene Bildung so sehr unterstreichen.
Spitzers absurde, nicht haltbare Thesen zeigen vor allem das Unbehagen Seinesgleichen durch das Aufkommen einer neuen Ära auf, der er nicht mehr angehört. Das hat nichts mit dem Alter zu tun - es gibt genügend Menschen, die älter sind als er und keine Probleme haben, sich auf die neuen Medien einzulassen und mit ihnen zu arbeiten. Es ist ein Problem der Geisteshaltung, der Verweigerung gegenüber etwas Neuem und der Verabsolutierung der eigenen Erlebnisse und Prioritäten. Dass ein Wissenschaftler wie Spitzer versucht, dieser abgestandenen Kritik die Patina der Wissenschaftlichkeit zu geben, macht ihn eher zu einer tragischen Figur, die der Wirklichkeit entrückt ist. Und Günther Jauch? Von dem war eigentlich nicht mehr zu erwarten.

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