Der absolute Tiefpunkt ist eigentlich ein Highlight

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat ja schon irgendwie recht, wenn er die so genannten Hartz-Reformen als absoluten “Tiefpunkt der bundesdeutschen Sozialpolitik” bewertet. Hartz IV habe zu einer “Amerikanisierung” des deutschen Arbeitsmarktes und zur tiefen sozialen Spaltung der Gesellschaft beigetragen.  ”Hartz IV markiert den absoluten Tiefpunkt der bundesdeutschen Sozialpolitik. Mit Hartz IV wurde die soziale Spaltung dieser Gesellschaft politisch mutwillig forciert”, erklärte Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen anlässlich der Vorstellung einer Bilanz zu 10 Jahren Hartz-Reform. “Insbesondere Hartz IV ist getragen von einem zutiefst negativem Menschenbild. Hartz IV ist geprägt von Misstrauen, Kontrolle und Drangsalierung.” Der Anspruch des “Förderns und Forderns” sei in der Praxis nie erfüllt worden. Das Fördern sei von Anfang auf der Strecke geblieben. Dreiviertel aller Betroffenen verbleibe langfristig in Hartz IV. “Hartz IV ist eine perspektivlose Sackgasse, kein Sprungbrett”, so Schneider.

Folgerichtig fordert der Verband eine arbeitsmarktpolitische Kehrtwende und unter anderem eine bedarfsgerechte Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze, die Einführung eines Mindestarbeitslosengeldes und den Ausbau öffentlich geförderter Beschäftigung. Außerdem fordert er mehr Perspektiven für Kinder und Jugendliche aus Hartz-IV-Familien. So wird vorgeschlagen, einen verbindlichen Rechtsanspruchs auf Teilhabe im Kinder- und Jugendhilfegesetz zu verankern. Das ist alles gut und schön – aber man weiß ja, wie das mit Rechtsansprüchen in diesem Land so ist: Was nützt der schönste Rechtsanspruch, beispielsweise auf einen Kindergartenplatz, wenn es einfach nicht genug Kindergartenplätze gibt? Dann stellt sich heraus, dass der Rechtsanspruch auf nicht vorhandene Kitaplätze letztlich auch wieder nun eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Rechtsanwälte war.

Auch die Forderung nach einer arbeitsmarktpolitischen Kehrtwende ist bestenfalls naiv zu nennen, denn die Politik hat ja genau die Situation, die wir jetzt haben, mit guter Absicht herbei geführt: Deutschland ist ein Arbeitgeberparadies mit einem gut ausgebauten, staatlich geförderten Niedriglohnsektor – deshalb wird hier ja überhaupt noch so viel gearbeitet. Es lohnt sich für die Arbeitgeber nicht (mehr), nach Osteuropa oder Asien abzuwandern – dort fordern die Leute ja inzwischen auch Löhne, von denen sie leben können – und die Lebenshaltungskosten steigen überall. Also bleibt man lieber hier, wo alle eine Sprache sprechen, die auch der Chef versteht und die Leute inzwischen auch für vier oder fünf Euro pro Stunde auf der Matte stehen – sofern man das Geschäftsmodell nicht gleich auf Ein-Euro-Jobber optimiert hat. Und damit die Ein-Euro-Jobber auch froh sind, wenigstens den Ein-Euro-Job machen zu dürfen, muss der Hartz-IV-Satz so niedrig sein, dass man davon allein nicht leben kann und die paar Euro Aufwandsentschädigung als großartige Wohltat empfindet. Das war doch kein bedauerlicher Fehler, der den Regierenden versehentlich passiert ist, sondern genau das Ziel ihrer Maßnahmen!

Und auf diese Weise wird der absolute Tiefpunkt der deutschen Sozialpolitik zum absoluten Highlight der deutschen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik – genau deshalb scheint die deutsche Wirtschaft noch zu funktionieren: Während in Spanien und Griechenland inzwischen so ziemlich nichts mehr geht, wurde in Deutschland der Lebensstandard großer Bevölkerungsteile schon vor dem akuten Ausbruch der Krise so weit abgesenkt, dass keine einschneidenden Korrekturen nötig sind, wie sie Griechen und Spanier gerade erleiden. Natürlich ist das für die Betroffenen nicht schön – mich würde aber mal interessieren, wie denn der Paritätische die Spaltung der Gesellschaft im herrschenden System überwinden will: Das geht einfach nicht.



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