Der Abriss

Von Nadine

Jahrelang stand sie brach, achtlos fuhr jeder an ihr vorbei. Sie war schon dort seit einer Ewigkeit und sie wird sicher noch eine weitere Ewigkeit dort bleiben, so dachte ich – die alte Ziegelei bei uns im Ort.

Aber jetzt geht es ihr an den Kragen. So viel ungenutzter Platz. So viel Neues könnte hier entstehen. Und so soll es sein. Schneller als man gucken kann wird nun alles abgerissen, zertrümmert, in Schutt und Asche gelegt.

Eigentlich kann mir das egal sein. Ist es aber nicht. Denn tatsächlich ist es nicht einfach irgendeine alte Fabrik für mich. Es ist ein Stück Kindheit. 

Mein Opa arbeitete dort. So viele Jahre war er Teil dieser Firma – und die Firma ein Teil von ihm. Gegenüber auf der anderen Straßenseite stand das Bürogebäude der Ziegelei. Darüber befand sich eine kleine Wohnung – in der meine Großeltern viele, viele Jahre lebten.

Erinnerungen

Hinter dem Haus befand sich eine große Rasenfläche, gesäumt von riesigen Pappeln und einer meterlangen Wäscheleine. Es gab eine kleine Gartenlaube und am anderen Ende der Wiese einen großen Sandhaufen, in dem mein Bruder und ich früher buddelten und spielten. Manchmal baute meine Oma auch das kleine Planschbecken auf.

Ich erinnere mich wie meine Cousine sich auf der Wiese stundenlang im Kreis drehte, wie ich kleine Grashüpfer fing, wie wir Kaffee mit Kakao tranken oder gegrillt haben in der Gartenlaube. Ich erinnere mich an Familienfeiern, bei denen viel zu viel Kuchen aufgetischt wurde. Ich erinnere mich an all die Geschichten, die Oma mir vom Krieg erzählt hat und wie spannend ich es fand, ihr zuzuhören. Ich erinnere mich an die alte, rote Blechkiste, in der meine Großeltern ihre scheinbar unzähligen Tabletten aufbewahrten. Ich erinnere mich daran, wie mein Bruder und ich oft in Opas Büro übernachteten und ich immer zum Fenster hinausschaute, wenn das Licht der vorbeifahrenden Autos das Zimmer erhellte. Ich erinnere mich, dass ich meinem Opa einmal einen neuen Rasierpinsel schenkte und wie stolz ich war, dass er ihn jahrelang benutzte. Ich erinnere mich an den dunklen Keller und wie es darin roch, an all die Gläser in denen Oma grüne Bohnen eingemacht hat oder Brombeermarmelade mit Rum lagerte. Ich erinnere mich an den großen steinernen Topf, in dem sie selbst Sauerkraut machte. Ich erinnere mich an den grünen Teppich und die Glocken die im Treppenhaus hingen, die ich immer und immer wieder geläutet habe. Ich erinnere mich daran, wie meine Oma im Kittel in der kleinen Küche stand und wie wir auf dem alten Plattenspieler Lieder von Klaus & Klaus hörten. Ich erinnere mich, wie Opa uns mit in die Fabrik nahm und uns alles zeigte. Ich erinnere mich, wie Opa und mein Bruder auf dem Fabrikgelände gemeinsam das Auto wuschen und ich zu ihnen lief und dann hinfiel. Noch heute ist die Narbe zu sehen. Ich erinnere mich an die Fasane, die jeden Tag kamen, jahraus, jahrein, weil sie wussten, dass meine Großeltern immer etwas Futter für sie bereit hielten.

Später, als mein Opa in den wohlverdienten Ruhestand ging, konnte er sich trotzdem nicht ganz von der Firma trennen. Er pflegte ein bisschen das Grundstück rund um die Fabrik und manchmal leitete er noch Führungen durch die Ziegelei.

Irgendwann wurde das Büro geschlossen und das Grundstück mitsamt dem Haus verkauft. Meine Großeltern mussten ausziehen. Das war nicht leicht für sie, war die Wohnung und der Garten nach all den vielen Jahren doch wie ihr Eigentum geworden. Und einen alten Baum verpflanzt man nicht, richtig? Aber es gab leider keinen anderen Weg. Sie fanden schließlich ein neues Zuhause.

Nach einer Explosion ein paar Jahre später wurde der Betrieb der Ziegelei schließlich ganz eingestellt und so blieb sie lange Zeit ungenutzt stehen. Bis jetzt.

Mein Opa starb leider vor zwei Jahren. Ein Abschied, der nicht leicht war – und für ihn doch erlösend. Und jetzt, mit dem Abriss, fühlt es sich irgendwie an, als würde ein weiterer Teil von ihm begraben werden.

Die Erinnerungen aber werden bleiben, denn sie sind in mein Herz geschrieben. Für immer.