Deplatzierte Untergangshysterie

Eine der Lieblingsbeschäftigung der Deutschen, neben dem Absprechen von Regierungskompetenz von linken Politikern, ist das An-die-Wand-malen des baldig nahenden Untergang der USA. Gerne wird darauf verwiesen, dass "der Kapitalismus" jetzt aber richtig, dieses Mal wirklich, an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen würde, dass die Kluft zwischen arm und reich nicht mehr zu überbrücken sei, dass das Land sich von seinem Supermachtstatus verabschieden müsse, weil China/die Schwellenländer/das wiedererstarkte Russland es ihm streitig machten, und so weiter und so fort. Untergangsphantasien sind schlicht faszinierend. Wir wenden sie auch gerne auf uns selbst an, Schmalspurgroßmacht, die wir sind (erinnert sich noch jemand?). Hauptsache, etwas geht unter, und wir können uns im wohligen Schauder am Kamin zurücklehnen. Schon Edward Gibbons dürfte seinen literarischen Erfolg auf dieser sentimentalen Ader aufgebaut haben, und Tacitus "Germania" gehört zu den ältesten erhaltenen Werken dieser Art. Aber was ist dran an der Idee eines baldigen "finis Americanum"?
Recht wenig. Jakob Augstein zitiert die aktuellen Schäden durch Hurrikan Sandy und das scheinbare Versagen der Regierung, schnell Abhilfe zu schaffen. Das funktioniert vor allem, weil er großzügig unterschlägt, dass schon ein plötzlicher Wintereinbruch in Deutschland ausgereicht hat, fast einer halben Million Menschen im Münsterland den Strom abzustellen. Man möchte sich kaum vorstellen was passiert, wenn ein ausgewachsener Hurrikan Deutschlands Küsten trifft und mal eben über Hamburg und Bremen hinwegtobt. Spaß hätten die Leute da gewiss nicht. Nur haben wir keine solchen extremen Wetterlagen und können damit leicht Hypothesen anstellen.
Nun lässt sich eines gewiss nicht wegdiskutieren: die gewaltige Kluft zwischen Arm und Reich, die sich in den USA mittlerweile aufgetan hat. In diesem Bereich hat Augstein ganz gewiss Recht, sie existiert. Sie ist auch ein echtes Problem, denn dass solche enormen Unterschiede und alles, was damit einhergeht - verrottende Schulen, schlechte Aufstiegschancen, mangelhafte Versorgung, lückenhaftes Sicherungssystem und so weiter und so fort - für die Volkswirtschaft insgesamt keine guten Auswirkungen haben können, haben viele Ökonomen mittlerweile erforscht. Es ist auch ein wenngleich wirkmächtiger Mythos, dass den talentierten und entschlossenen der Aufstieg offen stehe. So wirkmächtig gar, dass sich selbst das Wohlstandskind Mitt Romney im Wahlkampf nicht entblödete, seine Geschichte als Variante des zum Millionär aufgestiegenen Tellerwäschers zu erzählen. 
Auch ist es richtig, dass es um die demokratischen Strukturen nicht hervorragend bestellt ist. Das Gerrymandering war schon seit Gründung der Republik ein Problem, die aktuellen Fälle von voter supression klingen eher wie Geschichten aus der Zeit der Reconstruction Period, und der Einfluss des Großen Geldes ist aberwitzig. Man sollte aber nicht aus dem Blick verlieren, dass trotzdem Obama gewonnen hat und eben nicht der Darling der Wirtschaft und aller derjenigen, die über Geld verfügten. Die checks&balances für gescheitert zu erklären, wie Augstein das tut, ist ebenfalls Unfug - die funktionieren relativ gut, denn vor Gericht scheitern die Maßnahmen praktisch durch die Bank. Niemand hat je behauptet, dass sie schnell funktionieren würden. Aber funktionieren, das tun sie.
Am albernsten aber ist die Vorstellung, dass das amerikanische außenpolitische Gewicht in naher Zukunft durch aufstrebende Staaten wie Indien oder China ernsthaft in Zweifel gezogen werden würde. Die USA sind immer noch mit Abstand die militärisch stärkste Nation der Erde. China arbeitet gerade daran, seinen ersten Flugzeugträger in seine Marine zu integrieren, eine Marine, die derzeit dazu dient, den eigenen Hinterhof abzusichern, einen Hinterhof, der bereits in vietnamesischen und japanischen Gewässern endet. Die USA haben mehrere Trägergruppen, die problemlos zwischen Indischem Ozean, Pazifik und Mittelmeer verlegt werden können. Auf absehbare Zeit wird sich daran auch wenig ändern. Die Verschiebung des strategischen Fokus unter Obama, weg von Europa und in den Pazifik, ist Ausdruck von Realitäten. Er zeugt von einer Schwäche Europas, nicht von einer Schwäche Amerikas. 


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