Greifen und Klammern
Warum ergreifen wir? Wir greifen aufgrund von Hoffen und Fürchten. Hoffen und Fürchten lässt uns nach Gedanken greifen. Wir hoffen, dass die Götter uns helfen und fürchten, dass die Dämonen uns quälen werden. Egal, welche Gedanken da sind, wir fragen sofort, was hat das für mich für einen Vorteil? Was ist für mich drin? Oder welche Qual wird dieser Gedanke mir bringen. Es ist für uns schwer zu akzeptieren, dass Gedanken einfach Gedanken sind. Da gibt es keine Substanz im Gedanken. Wenn beispielsweise jemand kommt und vor einem steht und zu einem sagt: „Du bist ein Stück Scheiße!“ Dann würde in uns sofort brennender Ärger aufflammen. „Er sagt, ich bin ein Stück Dreck.“ Aber wenn man darauf blickt, dann ist „Scheiße“ einfach ein Wort. Wie kann sich Scheiße in solch einem Ausmaß personifizieren, dass man schon einen Schlag im Gesicht verspürt und darauf reagiert, als wäre sie wirklich und fest? Das ist deshalb so, weil wir an der Festigkeit von Worten festhalten und deren Bedeutung verstärken. Anstatt zu lernen, wie wir ihre Bedeutung auf ihre wesentlichen Bestandteile zurückführen und vereinfachen, fügen wir noch mehr hinzu. „Scheiße“ ist bloß ein Wort. Es ist ein leeres Wort, das aus dem leeren Raum kommt. So reagieren wir auf alle unsere Gedanken. Gedanken verfestigen sich, dann reagieren wir und dann hängen wir Ketten rund um das ganze Ding herum, später verstärken wir es noch.
Beim Shine müssen wir zuerst einmal offen genug sein, um die Gedanken atmen zu lassen, sie bewegen zu lassen, sie gehen zu lassen. Haltet nicht an Gedanken fest, indem ihr denkt: „Das ist dieser und das ist jener Gedanke, das ist dies, das ist jenes…“ An Gedanken festzuhalten, dass ist genau das, was ihr jetzt in Samsara macht. Das ist aufgrund der Gedanken. Wenn ihr verstehen könnt, dass Gedanken nichts anderes als eine Projektion des Geistes sind, dann wärt ihr schon erleuchtet, aber das ist nicht der Fall. Nun müssen wir die Gedanken ziehen lassen.
Erfordernisse
Eure erste Dringlichkeit der Meditation ist, einfach an einem ruhigen, nicht zu lauten Ort zu sitzen. Sitzt an einem ruhigen Ort und atmet einfach normal. Ihr könnt die Augen offen lassen, wenn ihr wollt. Das ist kein Problem. Wenn es für euch einfacher ist, dann schließt die Augen. Ihr könnt die Augen schließen, aber die Phänomene werden nicht zu euch herein springen. Ihr seid es, die an den Phänomenen festhalten. Aus der Sichtweise des Dzogchen ist es besser, die Augen offen zu lassen und nicht auf die Phänomene zu reagieren. Entspannt euch einfach. Lasst die Gedanken kommen. Es ist nicht nötig, sich vor Gedanken zu fürchten. Das Problem mit uns bei unserer gewöhnlichen Art des Sehens darauf ist, dass wir immer denken, dass unsere Gedanken bedeutungsvoll und wichtig sind. Wir geben den Gedanken Wichtigkeit und auf diese Weise etikettieren wir sie. Hier im ersten Abschnitt der Meditation soll man von den Gedanken nicht gefangen werden, nicht mit den Gedanken spielen, einfach die Gedanken erscheinen lassen und die Gedanken bewegen lassen. Gedanken werden erscheinen. Es gibt keine Meditation in der Welt, durch die man Gedanken blockieren kann. Nein! Das gibt es nicht! Gedanken sind der Ausdruck des Geistes. Daher werden Gedanken entstehen. Sie zu blockieren, ist nicht der Punkt. Der Fehler liegt beim Greifer, der die Gedanken ergreift. Das ist der Fehler. Euer Geist greift danach. Die Gedanken werden nicht gehen gelassen, sondern man ergreift sie. Das Spiel der Leerheit ist, dass alle Phänomene daraus erscheinen. Es gibt keinen Weg, wie man einen Deckel darauf machen kann oder sie einsperren und sagen kann: „Nein, Stop damit!“ Nein, das gibt es nicht. Der Geist wird immer Gedanken hervorbringen. Sein innewohnender Ausdruck wird erscheinen. Wenn ihr die Gedanken nicht ergreift und sie einfach belässt, dann werden die Gedanken zur Ruhe kommen. Sie müssen zur Ruhe kommen. Wo kommen sie her? Sie kommen aus der Leerheit und sie werden in Leerheit zurückkehren. Es gibt keinen anderen Weg. Aus dieser Leerheit geht der Gedanke wieder zurück und dann wird ein anderer Gedanken erscheinen. Das ist der beständige Ausdruck der Leerheit.
Meditation an sich im Gegensatz zu greifenden Gedanken
Es gibt kein Leid in den Gedanken selbst, ob sie friedlich oder zornvoll sind. Qual entsteht, wenn ihr sie ergreift. Das ist, was Leid ist. Gedanken selbst… sie sind überhaupt nicht leidvoll. Aber ihr müsst die Geduld haben, die Gedanken zu beobachten, Geduld, sie einfach zu belassen. Springt nicht sofort ins Greifen. Das ist das Problem mit uns. Wir haben so oft ergriffen, für so lange Zeit und so oft, dass auch wenn wir den Mond hier ansehen, wir schon glauben, ihn mit unseren Händen ergreifen zu müssen. So rasch geht das mit dem Geist. Der Mond ist auch nicht näher zu uns heran gekommen, aber wir können ihn schon mit unserer Hand ergreifen. Also im ersten Abschnitt erblickt eure Gedanken und seht die Bewegung eurer Gedanken. Das ist die erste Sache, die ihr sehen müsst, wie ein Gedanke nach dem anderen erscheint. Ihr müsst diese beständigen, Luftblasen gleichen Gedanken beobachten und wie sie kommen.
Diese Unterweisungen wurden von Lama Shenphen Dawa, dem Sohn Dudjom Rinpoches gegeben und vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2015) ins Deutsche übertragen.