Lesehinweis
In der taz war über das Schicksal der Arzu Özmen bislang nur Folgendes zu lesen: Polizei bittet die Türkei um Amtshilfe (20 Zeilen); vermisstes Mädchen tot aufgefunden (31 Zeilen), Prozessbeginn (64 Zeilen), Urteilsverkündung (ca. 90 Zeilen, nur auf taz.de). Kein Porträt, kein Kommentar, überhaupt kein eigener Text, ausschließlich Agenturmeldungen.
Nun muss man darin nicht unbedingt einen Vorsatz sehen. Die Frage, ob, wie und in welchem Umfang eine Zeitung ein Thema behandelt, wird häufig vom Zufall bestimmt. Doch nicht jedes unabsichtlich zustande gekommene Ergebnis ist auch ein zufälliges. Und ganz sicher gibt es im linken und linksliberalen Milieu, aber auch unter vielen Feministinnen und emanzipierten Deutschtürkinnen oder Deutscharaberinnen, eine Scheu, sich mit Ehrenmorden und Zwangsehen zu beschäftigen.
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Der Fall widerlegt die verbreitete Annahme, Bildung sei der „Schlüssel der Integration“. Er widerspricht dem vulgärmarxistischen Lehrsatz, dass allein das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme. Er überführt die reflexhaft vorgetragene und zynische Behauptung, dass Ehrenmorde und Zwangsehen nichts mit Religionen zu tun hätten, sondern Ausdruck patriarchaler Verhältnisse seien, die im Übrigen auch in anderen Gesellschaften herrschten.
Sicher gibt es auch andernorts patriarchale Verhältnisse. Und sicher dürften das Tatmotiv bei einem Mord an der eigenen Ehefrau meist ähnlich sein, selbst wenn hierzulande eine solche Tat nur dann als Ehrenmord gilt, wenn der Täter Mustafa oder Mohammed heißt, aber unter „Familiendrama“ firmiert, sofern er auf den Namen Willi oder Stefan hört.
Aber dass Geschwister oder Väter einen Mord begehen, weil sie einen archaischen Ehrenkodex verletzt sehen, ist im 21. Jahrhundert nur in bestimmten Kulturkreisen verbreitet – und in anderen nicht. 9,5 Prozent aller Mädchen, die sich im Jahr 2008 in Deutschland wegen einer bevorstehenden Zwangsverheiratung an Beratungseinrichtungen wandten, stammten aus jesidischen Familien (und 83 aus islamischen), obwohl der Anteil von Jesiden in Deutschland im Promillebereich liegt.
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Die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ verzeichnet die Jesiden auf ihrer Liste der „bedrohten Gemeinschaften“. Die entscheidende Frage aber stellt dieser Verein, der – ganz in der Tradition der deutschen Romantik und der Bildungsreisenden des 19. Jahrhunderts stehend – die Welt gern als Zoo eingerichtet wissen will, in der europäische Reisende pittoreske Eingeborene im artgerechten Gehege betrachten kann, die entscheidende Frage also stellen diese und andere Kulturrelativisten nicht. Sie lautet: Ist es gut oder nicht, wenn der jesidische Glauben das Zeitliche segnet?
http://www.taz.de/Kolumne-Besser/!93788/