Demokratiereform – Lasst das Parlament der Boss sein!

Dass sich die Demokratie in den letzten Jahren überall in Europa in einer Krise befindet, ist inzwischen jedem hinreichend bekannt. Der christdemokratische niederländische Politiker und ehemalige Informateur Herman Wijffels hat nun in einer bekannten Sendung Vorschläge zur Reform des politischen Systems seiner Heimat gemacht, die vielleicht auch allgemein von Interesse sein könnten.

Herman Wijffels ist ein 70jähriger niederländischer christdemokratischer Ökonom, Geschäftsmann und Wissenschaftler mit vielen Anknüpfungspunkten zur Politik. Zwar gehörte er nie einer Regierung an, aber als Mitglied des sozialökonomischen Beratergremiums der Regierung stand er viele Jahre dem politischen Betrieb nahe. Er war Bankmanager, niederländisches Mitglied des Vorstandes der Weltbank und bereitete nach den Wahlen 2006 als sogenannter Informateur die Bildung der neuen niederländischen Regierung vor. Obwohl er für Banken und Arbeitgeber tätig war, gilt Wijffels als linker Christdemokrat, seit 2009 arbeitet er für einen Thinktank, der sich eine nachhaltige, friedliche und gerechte Welt auf die Fahnen geschrieben hat. Außerdem ist er “Dozent für Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Veränderung” an der Universität Utrecht.

Dieser über die Grenzen der Niederlande hinaus bekannte und angesehene Mann machte in der Sendung “Nieuwsuur” des niederländischen Fernsehens vom 17. August 2012 einige interessante Vorschläge zur Veränderung des politischen Systems der Niederlande. Vorschläge, die mein Interesse weckten, weil sie mutig sind. Vorschläge auch, die in den Niederlanden größtenteils ohne eine Verfassungsänderung, die dort durchaus mal 5 Jahre dauern kann, durchgeführt werden können. Wijffels schlug vor, dass künftige Regierungen sich nicht mehr auf eine feste parlamentarische Mehrheit stützen sollten. Dass er gerade jetzt mit dem Vorschlag kommt, liegt auf der Hand. Am 12. September finden in den niederlanden zum fünften mal in 10 Jahren Parlamentswahlen statt. Da Wahlkampf und Regierungsbildung das normale politische Arbeitsleben für rund 1 Jahr praktisch ausschalten, arbeitete die niederländische Politik in der letzten Dekade nur mit halber Kraft. Außerdem weisen die Prognosen für die Parlamentswahl derzeit aus, dass es momentan keine mögliche Koalition schaffen wird, eine stabile parlamentarische Mehrheit zu formen. Das Parteienspektrum des Landes verschiebt sich immer mehr an die Ränder, Polarisierung und Zersplitterung nehmen zu. Herman Wijffels schlägt nun vor, dass das Parlament nach seiner Konstituierung einen Formateur wählt, einen Regierungsbilder also, der sich für die verschiedensten Ressorts über Parteigrenzen hinweg und völlig frei seine Minister aussuchen kann. Diese müssen einzeln vom Parlament bestätigt werden. Der Ministerpräsident mag zwar der Chef der stärksten Fraktion sein, doch soll es nach Wijffels Vorstellungen keine Koalitionsregierung im klassischen Sinne mehr geben. Die Regierung soll ihre Vorhaben im Alltag mit wechselnden Mehrheiten durchsetzen können, wie sie sich gerade im Parlament ergeben. Der Eine Vorschlag mag die Zustimmung mehr auf der linken Seite, der andere mehr von der rechten Seite des Hauses erhalten, jedoch findet immer eine offene politische Debatte statt. Heutzutage, so Wijffels, würde es kaum eine politische Debatte geben, weil man nur alle Koalitionsabgeordneten hinter sich bringen muss, Entscheidungen werden im kleinen Kreis getroffen, ein vorher ausgearbeiteter Koalitionsvertrag verhindere das rechtzeitige Reagieren auf neue Herausforderungen. So könnte ein breit aufgestelltes Kabinett mit Experten aus möglichst vielen politischen Parteien für seine Vorhaben um wechselnde Mehrheiten im Parlament werben, wie es zum Beispiel während der Zeit der Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen von 2010 bis 2012 auch geschehen ist. Die Maßnahmen einer solchen Regierung würden nicht den Stempel “links” oder “rechts” tragen, sondern wären möglicherweise ausgewogener. Und wenn die Regierung mal eine Abstimmung im Parlament verliert, geht davon nicht die Welt unter, so Wijffels. Das Parlament wäre echt der Boss, nicht die Hälfte plus 1 Abgeordneter. Eine offene politische Debatte über wichtige Fragen würde zwingend stattfinden, und neue Herausforderungen könnten angegangen werden, ohne auf einen zuvor geschlossenen Koalitionsvertrag Rücksicht nehmen zu müssen. Zur Umsetzung dieser Ideen bedarf es in den Niederlanden vor allem der Änderung von Gewohnheitsrecht und psychologischer Gegebenheiten, aber kaum der Änderung von Gesetzen oder gar der Verfassung. Nur die Wahl der einzelnen Minister durch das Parlament müsste eingefügt werden, den Rest würde man, wie die jetzige Regierungsbildung auch, durch das traditionelle Gewohnheitsrecht neu entwickeln.

Ich muss zugeben, dass mir die Ideen von Herman Wijffels zusagen. Es sind endlich einmal Vorschläge zur stärkung demokratischer Kräfte und Prozesse, keine Ideen, wie man die Demokratie weiter abbauen kann. Es sind Vorschläge, mit denen die politische Debatte gefördert und nicht eingeschränkt wird, und meiner Ansicht nach ist es eine richtige Reaktion auf das breit gefächerte Meinungsspektrum des Landes. Aber ich frage mich, was beispielsweise wir in Deutschland daraus lernen könnten. Bei uns geht die Welt unter, wenn die Regierung keine eigene Kanzlermehrheit bei wichtigen Fragen bekommt, wenn sie auf teile des oppositionellen Blocks angewiesen ist. An Abgeordnete denkt man beim deutschen Bundestag ohnehin nicht mehr, nur noch an Blöcke, an Fraktionen bestenfalls. Dies ist ein Manko, das bereits seit der Gründung der Bundesrepublik unserem System innewohnt, und das sich nur noch verschärft hat. Viele Bestimmungen des Grundgesetzes sollen eine starke Regierung gewährleisten, unabhängige parlamentarische Befugnisse und Rechte gibt es kaum, sie werden fast immer nur von der Regierungsmehrheit wahrgenommen. Selbst bei Untersuchungsausschüssen gibt es eigentlich immer einen Mehrheitsbericht der Regierung und einen Minderheitsbericht der Opposition, es geht also nicht primär um die Wahrheit, sondern das Image von Parteien. Parlamentarier verstehen sich nicht in der Hauptsache als Volksvertreter, sondern als Stimmvieh ihrer Partei und deren Führung. Um Vorschläge wie die von Wijffels in Deutschland umsetzen zu können bedürfte es eines ganz neuen Verständnisses von Politik und Demokratie, und es würde Mut erfordern. Und natürlich müsste das Grundgesetz geändert und die Rechte des Parlaments gestärkt werden. Im Grundgesetz müsste man die Ministerwahl einführen, und man müsste, das ist ganz wichtig, den Gesetzgebungsnotstand abschaffen. Dieses in Deutschland noch nie genutzte Instrument ist die Wirksame Waffe einer starken Regierung gegen ein unwilliges und zickiges Parlament. Wenn der Bundestag einen Gesetzesvorschlag der Regierung ablehnt, mit dem der Bundeskanzler eine Vertrauensfrage verknüpft, kann diese für 6 Monate ohne den Bundestag regieren, nur mit dem Bundesrat. Und der besteht bekanntlich nicht aus Parlamentariern, sondern aus Mitgliedern der Landesregierungen. Dann werden die Bundesgesetze von den Landesregierungen und der Bundesregierung gemacht. Bislang war eine solche Abschaltung des Parlaments, die an die autoritären Zeiten der weimarer Republik denken lässt, noch nicht nötig, weil die Regierung immer über Mehrheiten im Parlament verfügte. Eine Minderheitsregierung aber, die sich ihrer Mehrheit für jedes einzelne ihrer Programmpakete nicht sicher sein kann, könnte sich versucht sehen, dieses Mittel anzuwenden. In Deutschland wird also eine offene und nicht vorhersehbare politische Debatte schon vom Grundgesetz behindert, wenn nicht unmöglich gemacht. Zwar ging man wohl damals tatsächlich von einer Handlungsunfähigkeit der Organe aus, wie es sie zu weimarer Zeiten öfter gegeben hatte, die Verfassungswirklichkeit sieht aber anders aus. Vorschläge wie die von Herman Wijffels taugen darum für Deutschland wohl leider eher nicht. Mit unsicheren Mehrheiten, einem ungewissen Ausgang politischer Abstimmungen und Prozesse können wir sehr schlecht leben. In den Niederlanden hat dies trotz aller Parteipolitik eine gewisse Tradition. Offene und nicht vorherbestimmte politische Debatten täten uns aber allen gut, auch wenn es Mut erfordert, Vertrauen in die Demokratie und ihre konsequentere Verankerung in der Bevölkerung. Vielleicht machen uns die Niederländer das ja mal vor.


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