Von Stefan Sasse
Bush und Timoschenko 2008 ((c) Eric Draper)
Das sich aktuell entfaltende Drama um die 2010 abgewählte ukrainische Premierministerin Julia Timoschenko und ihre Rolle als Oppositionsfigur ist ein Demokratiemärchen vom Feinsten, ein Drama, dessen Aktstruktur und Verlauf klar vor uns ausgebreitet liegen und dessen Drehbuch einen Hit geradezu garantiert. Es ist ein Sommerblockbuster für die Nachrichtenmedien, und sie nutzen es weidlich aus. Selbstverständlich ist es grotesk. Die Ukraine ist nicht erst seit heute ein autoritärer, kaum demokratisch zu nennender Staat, sondern bereits seit vielen Jahren in einem Strudel aus politischer Korruption gefangen. Als Timoschenko 2011 wegen "Amtsmissbrauchs" zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde (angeblich hat sie mit Russland zu überhöhten Preisen Gaslieferungen beschlossen - generell aber wirkt die ganze Auseinandersetzung ohnehin mehr wie ein Verteilungskampf zweier Parteien, die den Staat als Privatbesitz betrachten) konnte man das kaum als ungewöhnlich ansehen. Bereits die Abwahl 2010, bei der Timoschenko dem Gegner Janukowitsch Wahlfälschung vorwarf, ohne sie je beweisen zu können, und danach den Stuhl nicht räumen wollte, zeigte deutliche Funktionsstörungen im demokratischen System. Jede Demokratie, in der der Wechsel zwischen Opposition und Regierung nicht reibungsfrei möglich ist, hat ein ernsthaftes Problem.
Timoschenko selbst ist geradezu eine Posterlady. Ihr extravagantes Auftreten mit Prinzessin-Leia-kompatiblen Haarkranz und enganliegendem, weißen Kleid weist sie geradezu als Erlösergestalt aus, eine Rolle, die ihr besonders westliche Medien in der "orangenen Revolution" 2005, aber auch ihre eigenen Anhänger gerne zuschreiben. Sie ist eloquent und gibt ein gutes Bild ab, ganz im Gegensatz zu ihrem Rivalen Janukowitsch, der weniger fotogen daherkommt. In diesem Auftreten aber den Grund für die plötzliche Medienbegeisterung über sie zu suchen wäre verkehrt, das ist allenfalls das Sahnehäubchen. Timoschenko sitzt bereits seit Monaten in Haft; den Klagen ihrer Anwälte und Anhänger über angebliche Misshandlungen (auch die Tatsache, dass sich darüber keine vernünftigten Informationen gewinnen lassen, sondern nur die Verlautbarungen des Lagers Timoschenkos und des Lagers Janukowitschs zur Verfügung stehen, spricht Bände über die Ukraine) ist kaum ernsthaftes Medieninteresse oder ein politischer Aufschrei gefolgt.
Wiktor Janukowitsch ((c) Igor Kruglenko)
Stattdessen muss man sich klarmachen, dass es in dem aktuellen Rabatz nicht um die Ukraine geht. Was hier vor sich geht, ist eine astreine deutsche Nabelschau. Unmittelbarer Anlass ist die in Bälde beginnende Europameisterschaft im Fußball, die anno 2007 an Polen und die Ukraine vergeben wurde. Damals dachte man noch, der demokratischen "Revolution" unter Timoschenko Rückenwind zu geben, oder schützte das zumindest vor. Heute natürlich sieht die Sache etwas anders aus. Nun hat Bundespräsident Joachim Gauck, um den es zuletzt über den Piratenhype etwas ruhig geworden war, offiziell angekündigt, nicht in die Ukraine reisen zu wollen, weil dort die Menschenrechte mit Füßen getreten würden - etwa Timoschenkos. Zuerst war das nur eine kleine Fußzeile, eine große Geste des Bundespräsidenten, der für seine Freiheitswerte eintritt, aber von keinem großen Belang. Merkel ließ über ihren Pressesprecher ausrichten, man denke darüber nach, ob man hinfahren wolle, was ihr - ganz die Alte - alle Optionen offen ließ. Die Kombination aus Fußball, der attraktiven Timoschenko als Ikone und der tapferen Widerstandsgeste des Präsidenten war dann aber doch zu attraktiv, als dass man sie hätte ignorieren können. Spätestens als in Interviews die Frage gestellt wurde, ob denn Fußballfans in die Ukraine reisen "dürften", musste selbst dem durchschnittlichsten Politikdarsteller klar sein, wohin der Wind wehte. Bald überboten sich die Politiker entsprechend auch mit kernigen Statements, die Jens Berger vollkommen ausreichend zusammengefasst hat - Stichwort sechs Wochen vor dem Ereignis fordern, es in ein anderes Land zu verlegen.
Das ist soweit zu erwarten, und dass die Medien darauf anspringen würden ebenso. Es ist eine tolle Story, klar personalisiert in gut und böse (hier die edle, gefolterte Demokratie in Gestalt Timoschenkos, da der böse ukrainische Staat) und völlig gefahrfrei zu verdammen. Wer sich jetzt die Frage stellt, warum niemand gegen die Formel 1 in Bahrain oder die EM2020 in der Türkei protestiert, der kann darauf eigentlich nur zwei Antworten bekommen. Einerseits ist die die bekannte Willkürlichkeit der öffentlichen Aufmerksamkeit. Für was sich die Medien interessieren, und was ihre Leser interessiert (ein gerne unterschlagener Aspekt) ist oft schwer abzuschätzen. Gaucks Trotzgeste war hier der Versuchsballon. Das große Echo war der Startschuss, um eine ganze Kampagne zu starten. Das ist das Eine. Zum anderen zeigt das aktuell ablaufende Demokratiemärchen in der Ukraine deren strategischen Stellenwert für Deutschland. Offensichtlich hält es niemand für besonders bedrohlich für deutsche Interessen, sie offen zu kritisieren und in Bausch und Bogen zu verdammen. Sie sind ein Schurkenstaat, den man offen einen nennen kann, weil man nicht besonders viel Einsatz am Laufen hat. Keine Truppenstützpunkte, keine Lieferverträge. Arme Ukraine.