Demokratie 4.0 – Rechtliche Grundlagen

Die Initiatoren der Initiative für eine Demokratie 4.0, Juan Moreno und Francisco Jurado, sind davon überzeugt, dass in Spanien die rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung dieser Art der direkten Bürgerbeteiligung an Parlamentsentscheidungen bereits gegeben sind. Aus diesem Grunde richtete Juan Moreno bereits im Juni 2010 eine  Petition an das spanische Abgeordnetenhaus (Congreso de los Diputados) und forderte, dass man ihm persönlich das Recht einräumen möge, auf elektronischem Wege direkt und unmittelbar an Entscheidungen des Parlaments teilzunehmen und über die Resultate jeder Abstimmung sowie über die Berechnung des in der Auszählung auf seine Person entfallenden Stimmanteils informiert zu werden. In der Folge wurde diese Petition im Herbst 2010 durch das Parlament an den parlamentarischen Ausschuss für Verfassungsfragen übergeben, von wo Moreno bis heute keine Antwort erhalten hat.

Zur Erinnerung: Es handelt sich bei diesem Konzept um eine Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie. Kern dieses »Demokratie 4.0« getauften Konzepts ist die elektronische Abstimmung der Bürger direkt im Parlament, wodurch sich der Stimmwert der dortigen Abgeordneten proportional verringert. Ein Beispiel: In Spanien vertreten 350 Abgeordnete ca. 35 Millionen Wahlberechtigte. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, also hat dort rein rechnerisch jeder einzelne Wahlberechtigte einen Anteil von einem 35-Millionstel an der gesamten Volkssouveränität. Diese Ziffer ist die so genannte »Souveränitätsquote«, um die der Stimmwert jedes Abgeordneten verringert wird. Die Möglichkeit der direkten Beteiligung an Parlamentsentscheidungen ist ein »Kann«, kein »Muss«. Entscheiden sich nun beispielsweise eine Million Menschen, dieses Recht für eine bestimmte Entscheidung wahrzunehmen, so reduziert sich der Stimmwert jedes Abgeordneten um eine Million mal ein 35-Millionstel, also um rund 0,0286. Die Stimme jedes Abgeordneten hätte also nicht mehr einen Wert von 1,00, sondern nur noch 0,9714. Was zuerst nach sehr wenig klingt, bedeutet bei 350 Abgeordneten allerdings einen Wertverlust von zehn Stimmen (350 * 0,9714 = 339,99). Das heißt alle Abgeordneten zusammen haben in diesem Szenario 340 Stimmen, während zehn Parlamentssitze quasi an das Volk zurückgingen und die Entscheidung dieser zehn Stimmen direkt von der einen Million elektronisch eingereichten Abstimmungen abhinge. Weitere Informationen zum Konzept der Demokratie 4.0 können hier nachgelesen werden: http://demokratie4punkt0.de/demokratie-40-uberblick/

Was sind nun aber die rechtlichen Voraussetzungen die laut den Gründern dieser Initiative in Spanien bereits heute die Einführung einer direkten Bürgerdemokratie mit digitaler Stimmabgabe über das Internet erlauben würden?

Verfassungsrechtliche Gründe

An erster Stelle steht natürlich die Verfassung und die auf ihr basierende Rechtsordnung, deren Regeln, wenn man sie korrekt und gemeinsam anwendet, die Pflicht der Legislative begründen, die von Juan Moreno dargelegten Tatsachen in Betracht zu ziehen und entsprechend zu handeln.

DIE spanische Nation, von dem Wunsch beseelt, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit herzustellen und dem Wohl aller ihrer Bürger förderlich zu sein, verkündet in Ausübung ihrer Souveränität ihren Willen,

DAS demokratische Zusammenleben im Schutze der Verfassung und der Gesetze und im Rahmen einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung zu gewährleisten;

EINEN Rechtsstaat zu konsolidieren, der die Herrschaft des Gesetzes als Ausdruck des Willens des Volkes gewährleistet;
[...]
DEN Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um würdige Lebensverhältnisse für alle zu sichern;
EINE fortgeschrittene, demokratische Gesellschaft zu errichten;
[...]

Präambel der Spanischen Verfassung von 1978 

1. Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als obersten Werten seiner Rechtsordnung.
2. Das spanische Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, ist Träger der nationalen Souveränität. 

Artikel 1, Spanische Verfassung

2. Den öffentlichen Gewalten obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Freiheit und Gleichheit des Einzelnen und der Gruppe, in die er sich einfügt, real und wirksam sind, die Hindernisse zu beseitigen, die ihre volle Entfaltung unmöglich machen oder erschweren, und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben zu erleichtern.

Artikel 9

1. Die Bürger haben das Recht, an den öffentlichen Angelegenheiten direkt oder durch in periodischen, allgemeinen Wahlen frei gewählte Vertreter teilzunehmen.

Artikel 23

Die Verfassung legt also die Demokratie fest als Ausdrucksform des Willens der Bürgerinnen und Bürger sowie als einzig zulässige Regierungsform des Volkes. Die Regierung der Menschen für die Menschen durch die Menschen über Gesetze, die sie sich selbst geben. Moreno sieht außerdem, dass die Verfassung die Weiterentwicklung der Demokratie verlange und ihre direkte Form als  Ziel habe. Seiner Meinung nach ist dies das Ziel der Verfassung und der Verfassungsauftrag an die öffentliche Verwaltung.

Historische Gründe

Geschichtlich gesehen hat die durch die Rechtsordnung festgelegte Regierungsform der Demokratie immer auf dem Grundelement der Vertretung oder Repräsentation basiert. Bis heute. Die historischen Grundlagen dafür finden sich im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Völker, die zu jener Zeit die Demokratie auf Basis der Volkssouveränität einführen wollten, sahen sich einigen Herausforderungen ausgesetzt. Angesichts der Notwendigkeit einer Regierungsbildung und der Ausarbeitung von Gesetzen, der Menge der betroffenen Menschen und der Unmöglichkeit der simultanen Kommunikation aller untereinander, sowie der Zeit, die zur Findung des Volkswillens nach dem griechischen Vorbild der »Versammlung der Freien« erforderlich gewesen wäre, war es nur die effizienteste und logische Konsequenz, repräsentative Versammlungen der Völker (also Volksversammlungen oder Parlamente) zu schaffen. Die Willensbildung des Volkes und die Ausarbeitung von Gesetzen wurde durch Repräsentanten oder Stellvertreter übernommen, die in gewissen Zeitabständen durch alle Berechtigten gewählt wurden und durch diese Wahl das Mandat übertragen bekamen, im Auftrag des Volkes zu handeln und seine Autorität zu übernehmen. Sie verkörpern den politischen Willen des Volkes und ihre Legitimität beziehen sie aus dem Volk selbst. Im 19. Jahrhundert war dies wahrscheinlich die intelligenteste und gerechteste Option.

Unsere Länder und Völker haben dieses Modell übernommen und bis heute bildet es die Grundlage unserer Regierungsform, obgleich die ursprünglichen Gründe für die Einführung eines Repräsentativmodells heute nicht mehr in dieser Form bestehen.

Modernisierung der Verwaltung

Nun befinden wir uns aber inzwischen im 21. Jahrhundert und die Voraussetzungen sind vorhanden, um die Demokratie tatsächlich weiterzuentwickeln und den alten Traum »Ein Bürger, eine Stimme.« wahr zu machen. Es ist an der Zeit, dass die Menschen selbst die Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen und dass die Entscheidungen über ihr Leben und ihr Schicksal von ihnen selbst anstatt von Stellvertretern getroffen werden.  Die spanische Verfassung verpflichtet zu dieser Weiterentwicklung!

Heute ist es möglich, dass die Millionen von Frauen und Männern, welche die Völker, also den Souverän, bilden, selbst entscheiden und selbst abstimmen über die Gesetze, die das Leben aller bestimmen.  Die Technologie macht es heute möglich, dass alle Menschen in Echtzeit miteinander kommunizieren und in Echtzeit über das abstimmen, was uns ganz grundlegend betrifft: die Gesetze.

Natürlich geht es hier um das Internet als Werkzeug der Kommunikation und Abstimmung in Echtzeit. In Spanien wie in Deutschland wurden in den letzten 20 Jahren zahlreiche Bemühungen unternommen und Gesetze auf den Weg gebracht, um die Behörden für die Bürger auf elektronischem Wege zugänglich zu machen. In beiden Ländern ist man dabei weit davon entfernt, das Niveau der angelsächsischen, skandinavischen oder gar einiger asiatischer Länder zu erreichen, aber ein Anfang ist gemacht, ein Zurück gibt es nicht und ein Wille bzw. eine Notwendigkeit ist erkennbar. Und natürlich ist der Staat genau da für seine Bürger elektronisch per Internet am einfachsten zu erreichen, wo er als Staat am erkennbarsten ist: Beim Zahlen von Steuern, Abgaben und Gebühren. Millionen von Menschen geben ihre Steuererklärung auf elektronischem Wege ab, Unternehmer sind gezwungen, ihre Umsatzsteuervoranmeldung jedes Quartal per Internet einzureichen. In Spanien lassen sich auch bereits sensiblere Rechtsgeschäfte, die eine eindeutige Identifizierung erfordern, in größerem Maße als in Deutschland per Internet abwickeln, da dort der elektronische Personalausweis samt persönlicher Geheimzahl und digitaler Signatur bereits 2006 eingeführt wurde.

Es existieren Regeln und Werkzeuge, welche die Rechtsgültigkeit von Willenserklärungen von Privatpersonen auch über elektronische Medien ermöglichen, und es wurden Maßnahmen ergriffen, um die Sicherheit solcher elektronischer Willenserklärungen zu gewährleisten. Gleichzeitig basiert aber unser gesamtes System auf Wahlen, es bezieht seine Rechtfertigung und Legitimation aus ihnen. Die Wahlen drücken einigermaßen den Willen des Souveräns aus, desselben Souveräns, in dem die Macht des Staates liegt, und damit letztendlich die Macht der Abgeordneten.

Es ist unausweichlich, dass sie diese beiden Tatbestände, die Willenserklärung des Bürgers mit voller Rechtsgültigkeit über elektronische Medien und der Ausdruck der Souveränität des Volkes, letztendlich miteinander verschmelzen werden.

Parlamentsentscheidungen ohne physische Präsenz

Bereits 2008 ergänzten die Cortes Valencianas, das mit einem deutschen Bundestag vergleichbare autonome Parlament der Region Valencia, ihre Satzung bezüglich des Ablaufs der Abstimmungen und Stimmabgaben innerhalb des Parlaments um folgenden Abschnitt:

5. Um Abgeordneten, die aufgrund ihrer Elternzeit oder längerer Krankheit nicht an den Sitzungen des Parlaments teilnehmen können, die Ausübung ihres Stimmrechts im Plenum der Kammer zu garantieren, können die Cortes für diesen Zweck geeignete technische Systeme in Betrieb nehmen.

Artikel 81.5 Satzung der Cortes Valencianas

Parlamente anderer Autonomer Regionen Spaniens (z.B. in Andalusien und Katalonien) haben ihre Satzungen bereits um ähnliche Möglichkeiten für Abstimmungen ohne physischen Anwesenheit des Stimmberechtigten ergänzt, ebenso treffen verschiedene Deputaciones Provinciales (die der Zentralregierung unterstellten Verwaltungen der spanischen Provinzen) entsprechende Vorkehrungen.

Ziel dieser Regelung ist es, das Stimmrecht auf rechtsgültige Art und Weise ausüben und die Stimmanteile berechnen zu können, ohne dass dafür die physische Anwesenheit des Volksvertreters im Parlament, der Kammer, Kommission oder wo auch immer die jeweilige Abstimmung stattfindet, erforderlich ist. Es werden also bereits Vorkehrungen dafür getroffen, das Votum zu digitalisieren und auf elektronischem Wege zu übertragen, also den wichtigsten Akt der Willensäußerung des Legislativorgans, das wiederum den Willen des Volkes widerspiegelt und die Souveränität des Volkes verkörpert.

Präzedenzfall

Am 16. Dezember 2008 kam es im Regionalparlament der Autonomen Gemeinschaft Valencia zu einem richtungsweisenden Ereignis, das über die Grenzen dieser Region hinaus von Bedeutung ist. Juristisch, faktisch und politisch wurde die  Tür zu einem neuen Gesellschaftsmodell aufgestoßen, durch die es kein Zurück mehr gibt.

In Übereinstimmung mit der zuvor genannten Satzungsänderung dieses Parlaments nahm eine Abgeordnete, die sich in Elternzeit befand, von ihrer Wohnung aus an einer Parlamentssitzung teil. Das Medium, das es ihr ermöglichte, ihre Stimme rechtsgültig in das Legislativorgan einzubringen, war das Internet. Sie nahm in Echtzeit an der Sitzung teil, stimmte mehrfach über verschiedene Vorschläge ab und trug mit ihrer Stimme dazu bei, dass die notwendige Mehrheit für verschiedene Gesetze erreicht wurde, darunter das Gesetz über das Budget der Verwaltung der Autonomen Region Valencia für das Jahr 2009. So ist es im Sitzungsprotokoll niedergelegt.

Als Identifikationsmittel diente ihr eine spezielle Chipkarte. Das eingesetzte Telematiksystem ermöglichte es, diese Chipkarte als beglaubigte Unterschrift zur eindeutigen Identifizierung der Abgeordneten zu verwenden, zugleich garantierte es aber auch die Einhaltung des Wahlgeheimnisses. Grundlage dieses Verfahrens ist die elektronische Signatur. Die verwendete Chipkarte ähnelt dem elektronischen Personalausweis (in Spanien »eDNI« oder »DNIe« genannt) mit dem Unterschied, dass dieser bisher keine vollständige elektronische Signatur enthält.

Die Relevanz dieses Vorgangs für Justiz, Verfassung und Politik ist selbsterklärend. Um über Rechtsvorschriften abzustimmen und sie zu legitimieren, muss die Inhaberin des Stimmrechts, die zugleich auch die ihr Stimmrecht ausübende Person war, nicht physisch im Parlament, wo sich der Wille des Volkes manifestiert, anwesend sein.

Das Internet revolutioniert sämtliche Lebensbereiche, manche früher, andere brauchen etwas länger. Bei allen Sicherheitsbedenken und Sorgen über die technischen Voraussetzungen für eine digitale Demokratie mit direkter Bürgerbeteiligung: dies sind Dinge, die sich lösen lassen und die früher oder später gelöst sein werden! Bereits seit Jahren werden von Banken und Staaten täglich Milliardenbeträge rund um den Globus transferiert – völlig sicher und ohne die geringsten Bedenken. Europaweit wird intensiv an der Abschaffung des Bargelds gearbeitet, was ebenso einen extrem hohen Sicherheitsstandard fordert. Natürlich wird weder das Bargeld von heute auf morgen abgeschafft, noch eine digitale und direkte Demokratie von heute auf morgen eingeführt, aber der Weg dahin ist vorgezeichnet, es müssen nur die richtigen Werkzeuge, Standards und Sicherheitsgarantien entwickelt werden. Wenn die Bürger ihre Steuern und Abgaben auf elektronischem Wege erklären und zahlen sollen und können, also auf direkte Art und Weise und von jedem beliebigen Ort mit Internetanschluss aus zum Unterhalt des Staates beitragen können, dann wird es auch möglich sein, dass sie auf genau dieselbe Art und Weise auch an der Entscheidung über die Regeln und Normen teilhaben, die das Leben in eben jenem Staat regeln.


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