Das Thema Demenz und die damit einhergehenden Folgen bestimmen das Leben vieler Familien. Wer mit dem Thema zu tun hat, stellt schnell fest, das diese Problematik viel verbreiteter ist, als man dies glauben mag. Selbst in der Krimireihe “Tatort”, die gesellschaftliche Entwicklungen gerne aufgreift, wurde das gelegentlich thematisiert. In der Fiktion, beispielsweise in “Heimwärts” schauspielerisch großartig dargestellt, wurde die persönliche Tragik und finanzielle Burnout der Angehörigen gestreift; und in “Wer ist hier der Narr” , der allgegenwärtigen “Pflegenotstand” und “Lohnsklaverei” in Nebenschauplätzen aufgegriffen. Doch die drängenden Forderungen nach Veränderungen im Hinblick auf die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit bei “Demenz” kommen aus dem alltäglichen Umgang mit Betroffenen.
Demenz: Betrifft die gesamte Familie
Die Zeit vom Beginn der Erkrankung, die spätere Diagnose, die fortschreitenden Phasen bis zum langen Abschied, haben wir als Angehörige bei beiden Elterteilen nacheinander nicht als Fiktion, sondern in der Lebensrealität durchlebt:
Parallele Phasen für Erkrankte und Angeörige (Tabelle zum Vergrößern anklicken) – Grafik: © politropolis.de
Unser Vater litt an Parkinson und Alzheimer-Demenz. Und einige Jahre später, führten Schlaganfallsymptomatik mit einhergehenden Demenzschüben bei meiner Mutter dazu, dass die “Ausnahmesituation” im Alltag jahrelang der Normalfall wurde. Die damit verbundenen Einschnitte im Zusammenleben und der eigenen Lebensplanung in den letzen 20 Jahren waren gravierend. Erholungsphasen, die nötig gewesen wären, wurden selten. Kollisionen mit der beruflichen Tätigkeit und Krisen in der Beziehung sowie innerhalb der Familie häuften sich hingegen. Das Gesparte wurde aufgebraucht, auf Urlaube verzichtet und der Kräfteverschleiss wirkt bis heute nach. Die Rente der Erkrankten reicht für “große” Lösungen, wie ganztägige, persönliche Betreuung nicht aus. Die von den Kassen zur Verfügung gestellen Hilfen beschränkten sich -selbst noch in fortgeschrittenen Stadien- auf wenige Minuten täglicher Unterstützung durch den ambulanten Pflegedienst. Die Leistungen der Pflegeversicherung treten erst nach Einstufung in die entsprechende Stufe in Kraft. Und da hapert es seit Jahren.
Angehörige jonglieren am Rande des Burnouts
Wer einen Demenzkranken in seiner Familie hat, weiss ein Lied davon zu singen, worum sich der Alltag in den oben skizzierten Phasen dreht. Wiederauffinden verlorener Ausweise, Geldsachen, Haus- und Autoschlüssel, Suchen und Einfangen der nachts umherirrenden Elternteile, jahrelang schlaflose Nächte, stundenlange Telefonate mit Ärzen und Kassen, mit Krankenhäusern und Pflegedienst, nächtliche Fahrten und Notarzt-Rufe im Morgengrauen. Von beinahe-Wohnungsbränden, Stürzen und Knochenbrüchen, von Phasen eines liebevollen Umgangs miteinander und kurze Strecken beinaher Normalität, bishin zu spontanen aggressiven Ausbrüchen des Erkrankten oder darauffolgenden depressiven Phasen. Es gäbe sicher noch viel mehr aufzuzählen.
Pflegestufen-Checklisten der Grundfunktionen werden
dem Menschen in seiner Gesamtheit nicht gerecht
Wie werden die von Demenzkrankheit betroffenen Menschen nun hinsichtlich ihrer Pflegebedürftigkeit beurteilt? Es geht zu wie am Fliessband, in etwa so als würde ein Gutachter den Wert eines Oldtimers schätzen: Schiebedach? Hatta. Motor läuft noch rund? Klaro, brummt bestens. Scheinwerfer? Bischen blind, aber leuchten noch…
So ungefähr scheint der Medizinische Dienst der Kassen vorzugehen, wenn er mit seiner Checkliste den notwendigen Pflegeaufwand feststellt und die „Pflegestufen“ zuordnet.
Etwa in dieser Art war es jedenfalls beim Vater. Körperlich zunächst noch gut beieinander. Doch bei seinen langen Spaziergängen mit dem Hund verirrte er sich ständig, was zu besorgten Telefon-Rundrufen samt Suchaktionen führte.
Der medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) suchte ihn bei seinen Einschätzungen jeweils zu hause auf, zu einer Zeit bei der er verhältnismäßig „fit“ erschien und wenn man ihn fragte, konnte er angeblich noch alles selbst: Waschen, Anziehen, Essen. „Check!“
Beeinträchtigungen im Alltag werden nicht abgebildet
Dass -je nach Tagesform- Willy Brandt oder Helmut Schmidt für ihn noch Bundeskanzler waren, und die Ära Kohl für ihn irgendwie nicht stattgefunden hatte, blieb eine lustige Randanekdote, die für die Einstufung in die Pflegestufe-Ordung nicht sehr relevant war. Genau sowenig, wie seine sonstigen psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen im Alltag, Neben Zittern, eingeschränkter Sehkraft und motorischen Handycaps: Verwirrtheitszustände, Desorientierunng, Halluzinationen, Aggressionsschübe und Zeiten, an denen er nur weinte.
Alles was bis dahin zur Pflege nötig war, wurde privat von der verminderten Rente aus „vorzeitigem Ruhestand“ bezahlt. Was darüber hinaus inkl. „Papasitten“ nötig war, wurde eine lange Zeit alleine von uns, den Angehörigen geleistet. (Das Ganze wiederholte sich dann ähnlich mit ein paar Jahren Zeitversatz bei der Mutter.)
Das Verfahren, nach dem der Mensch wie eine „kaputte Maschine“ beurteilt wird und nicht als „Gesamtmensch“, wurde seit Jahren nicht verändert. Dies benachteiligt die Demenzkranken systematisch, behindert eine adäquate, würdige Pflege und Betreuung. Wann und wie ein Mensch pflegebedürftig ist, bedarf dringend einer neuen Definition.
Reformstau – Eine Frage der Menschenwürde
Die Regierung war diesbezüglich wider besseren Wissens untätig. Laut Informationen des Gesundheitsministeriums und der Sozialverbände, liegt der Bundesregierung bereits seit Anfang 2009 ein diesbezüglicher Bericht des „hochkarätig besetzten Expertenbeirats“ vor, der die Mißstände aufzeige.
Bis heute hat sich wenig getan. Gesundheitsminister Bahr (FDP) verwies schwammig darauf, “dass ein grundlegender Systemwechsel vielfältige fachliche und organisatorische Veränderungen mit sich bringe”, als er eine aktuelle Überarbeitung dieses Berichts im Juni 2013 entgegennahm.
Laut aktueller Zahlen sind heute 1,4 Millionen plus mindestens genausoviele Angehörige betroffen. Längst ist eine Überarbeitung der Pflege-Beurteilung überfällig.
Welche Parteien Deutschland auch immer regieren werden, man wird sie unter anderem daran messen, wie sie mit diesem Thema umgehen. Es geht um eine Frage der Menschenwürde in einer Gesellschaft, die immer älter wird.
von Hans-Udo Sattler
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Quellen – weiterführende Links
Grafik: by politropolis.de
BMG: Pflegeversicherung im Überblick (2013) Bundesministerium für Gesundheit, Download PDF-Dokument
BMG: “Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs” Expertenbeirat übergibt Bericht an Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr