Dem würde ich die Eier abschneiden ...

Dem würde ich die Eier abschneiden ...Wir standen alle rum. Sechs, sieben Leute. Die Mehrzahl unterhielt sich über Staubsauger oder Waschmaschinen. Vielleicht waren es auch nur Bügeleisen. So genau habe ich nicht zugehört. Ich hörte aber genug, um zu wissen, dass das nicht mein Ding war. Mich langweilte es und so schwieg ich. Irgendwie landeten sie dann bei Sexualstraftätern. Immer wieder überraschend, wie man von Plätzchenbacken auf den Weltuntergang kommen kann. Oder vom Picknick zum Aussterben der Deutschen. Entweder ist der Mensch so genial, dass er aus einer Mücke einen Elefanten destilliert oder er ist einfach nur zu dämlich, um einen roten Faden zu halten. Sucht es euch aus. Ich hörte nur noch Wüten, die Diskussion emotionalisierte sich. Und einer sagte dann, er würde einem solchen Schwein, das Kinder missbraucht, die Eier abschneiden. »Genau!«, pflichtete ihm jemand energisch zu. Er hatte offenbar das richtige Gefühl gefunden. Eine Handvoll abgeschnittener Eier waren das Gebot der Stunde. Sie nannten es nur »Gerechtigkeit«. Das klingt weihnachtlicher.

Waschmaschinen sind öde. Abgeschnittene Eier interessieren mich da schon eher. Oder sagen wir mal so: Mich interessiert, wie einer dazu kommen will, einem anderen die Genitalien zu verstümmeln. Da muss was schieflaufen. Keiner kommt als Hodenhenker zur Welt.
   »Aaaahhhh«, fiel ich ihnen ins Wort.
   Laut und deutlich. Und vorallem angewidert. Es war ein langgezogenes Ah, das leicht nach einem Bäh klang; eines, wie man es ausstößt, wenn man versehentlich von jemanden angekotzt wird.
   »Na, ist doch so. So einer hat nichts anderes verdient.«
   »Das ist Mittelalter und hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun.«
   »Es geht darum, dass er das nie wieder machen soll. Also Schwanz ab und gut.«
Gerade waren es noch die Testikel. Für manche Menschen besteht zwischen Hoden und Penis kein Unterschied. Und zwischen Gerechtigkeit und Verstümmelung auch nicht. Das ist das Problem, wenn sich viele verschiedene Worte für jemanden gleich anhören.
   »Es gibt doch Gesetze, Sicherheitsverwahrung, Therapien. Es ist nicht so, dass wir als Gesellschaft dem völlig hilflos ausgesetzt wären.«
   »Ich kenne einen, der kam wieder frei und hat dann vergewaltigt«, rief jetzt die Blonde aus dem Hintergrund. Sie schien sehr erregt.
   »Kann sein. Aber das ist kein Beweis. Nehmt mal die Emotion raus und bleibt sachlich.«
   Das hat man bei diesem Diskussionen auch oft. Sie sprechen von Vergewaltigungen an Frauen und den Missbrauch von Kindern so, als wäre es dieselbe Klientel von Sexualtätern, die das tut. Differenziertheit ist die Sache solcher Gespräche nie.
   »Wenn das deinem Kind passiert wäre!«, rief einer in die Runde.
   Wusste er so sicher, dass es das nicht ist? Das gehörte nicht dorthin, also sagte ich nichts. Das gehört auch nicht hierher, also weiter im Text.
   »Glaubt ihr, dass es für einen selbst als Elternteil und für das eigene Kind förderlich ist, wenn man Hass kultiviert und brachiale Strafen möchte? Glaubst du, dass das irgendjemanden hilft? Tut mir leid, da liegt ihr beide falsch.«
   Jetzt schrien sie alle durcheinander. Auch die, die bislang geschwiegen haben. Sie trieben mich in die Enge, stellten mich wie einen Unmenschen hin, wie einen Träumer und Besserwisser, der ihre geordnete Welt ins Wanken bringt.
   Ich schüttelte nur den Kopf und sagte, dass das alles auch meinen Verstand und mein sittliches Bestreben beleidige, was sich hier gerade abspiele. Da wurden sie nur noch lauter und dann ebbte es ab und sie sprachen nicht mehr mit mir.
Ihre kalten Blicke spürte ich noch einige Tage danach. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei ein schlechter Vater, weil ich nicht dazu bereit bin, Menschen zu verstümmeln. Ich sehe es hingegen ganz anders. Jeder, der eine solche Gesellschaft will, würde seinen Kindern eine Welt hinterlassen, in der es von plumpen Rachegefühlen und ordinärer Lynchjustiz nur so wimmelt. Gute Eltern wollen das aber sicherlich nicht.
Sie wähnen sich halt alle in einer Tätergesellschaft, in der Opfer immer verlieren und Täter diabolisch lachen. Und dann komme ich und behaupte, dass es nicht ganz so ist. Es läuft sicher nicht alles glatt, aber so drastisch dürfte es dann wohl doch nicht sein. Opfer von Sexualstraftaten stehen dann doch nicht völlig alleine da. Aber die Leute erliegen dem rechten Populismus, der sagt, dass Vergewaltiger und Pädophile eine Lobby hätten, während man Opfer zu Tätern mache. Zur Todesstrafe ist es dann bloß noch ein kleiner Schritt. Und die scheint als Option derzeit wieder recht beliebt zu sein, was man so liest. Die Agitation der Menschenfischer von der rechten Seite wirkt.
Neulich kam mein Kind heim. Es erzählte, sie hätten in Ethik über Menschenrechte gesprochen. Ein Mitschüler habe im Unterricht gesagt, dass die Menschen, die sich nichts zu Schulden kommen lassen, bestimmte Rechte als Menschen hätten. Mein Kind meldete sich und sagte, dass es doch Menschenrechte seien und alle Menschen welche hätten. Auch Mörder und so, oder etwa nicht? Manchmal überrascht mich mein Teenager ja auch positiv. Die Lehrerin wollte allerdings nicht so richtig beipflichten. Sie murrte, wackelte mit dem Kopf und überging den Einwurf. Sie sagte sicher auch nichts dagegen. Als Vater hätte ich mir aber gewünscht, dass sie Stellung bezieht. Für die Menschenrechte, die jedem Menschen zukommen. Jemand mag eine Strafe büssen, aber gewisse Rechte sind unveräußerlich. Die Unantastbarkeit der Hoden zum Beispiel. Tja, sie sagte nichts. Lehrer. Die trugen fast immer schon einen reaktionären Zug in sich. An der Deinstallation des ersten deutschen Demokratieversuches, hat die Lehrerschaft maßgeblich mitgewirkt. Aber ich will niemanden etwas unterstellen. Wir sind heute doch alle antifaschistisch, oder etwa nicht?
Alle Menschen sind gleich. Schwarze und Weiße. Juden und Christen. Das hört man heute oft. Aber man interpretiert Abstufungen hinein, die es gar nicht geben dürfte. Der Kriminelle ist zum Beispiel nicht ganz so gleich. Und der Sexualstraftäter verwirkt alles. Nicht umsonst sagen viele, dass das kein Mensch mehr sei. Til Schweiger sagte mal öffentlich, er wolle all diesen Typen die Menschenrechte aberkennen. Er erhielt Applaus. Man kann heute als Mensch gegen Menschenrechte sein und alle finden etwas Sinnvolles daran. Ich finde allerdings, dass man am Umgang mit solchen Menschen erkennt, wie eine Gesellschaft denkt und fühlt. Ist sie noch bereit, an den Werten einer Welt festzuhalten, in der auch die, die sich disqualifiziert haben, ein Mindestmaß an menschlichen Respekt erhalten. Das heißt ja nicht, dass sie straffrei ausgehen. Aber an ihrem Menschsein darf kein Zweifel herrschen. Tut es das aber, dann stimmt da etwas nicht mehr, dann orientiert sich die Gesellschaft um, gleitet ab und wickelt ab, was als Errungenschaft schon mal gültig war.
Worauf ich eigentlich hinauswill: Der Rechtsruck manifestiert sich nicht nur am Rassismus und an Wahlerfolgen konservativer Parteien. Rechtsruck ist mitnichten nur, dass man ausländerfeindlicher wird und Diskriminierung akzeptiert. Man erkennt ihn vorallem daran, wie feindlich man den Ideen der Aufklärung und der Unveräußerlichkeit von existenziellen Garantien gegenübersteht. Ob man Verbrechen verstehen will, um daraus zu lernen oder ob man sie auf den Scheiterhaufen stellen will. Man ist nicht nur als Ausländerhasser ein Rechter. Auch als jemand, der Leute auf die Streckbank legen will und in den Kerker werfen möchte, reitet man sich ins rechte Spektrum hinein. Kein Zweifel, die Reaktion wirkt. Wir sind dabei, unsere gesellschaftliche Mitte rechts zu finden.
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