Dem Gott so Wurst war wie der Teufel

Von Butterwek @butterwek

Nahezu ein Menschenalter ist verstrichen, seit vor 90 Jahren der abgebrochene Germanist und Gelegenheitsredakteur Norbert Jacques auf einem Dampfschiff den Bodensee überquerte und Dr. Mabuse traf.

Norbert Jacques: “Dr. Mabuse, der Spieler”, Roman, 383 Seiten, Rowohlt.

Gedanklich in einen Reisebericht vertieft, den er für einen Konstanzer Verlag verfassen sollte, geriet ein älterer Mann in sein Blickfeld, der sich, “inmitten der bunten Unruhe der Schiffsgesellschaft”, von seiner Umwelt an der Reling hochmütig abgesondert hatte. Der durch die Faszination, die der fremde Passagier in ihm weckte, in Bann geschlagene Norbert Jacques sollte die gesamte Überfahrt damit zubringen, Aussehen und Haltung dieses Mannes zu studieren, “dem Gott so Wurst war wie der Teufel.” Der junge Schriftsteller war sicher, hier Symbol für die 20er Jahre gefunden zu haben.

“Die Zeit, in welcher die Wunde des Krieges noch nicht geschlossen, die Zeit, welche der Musik des losgelassenen Teufels verschworen war, tanzte wie in einem von Rausch und Blut durchtaumelten Krater in diesem Kopf.”

In den Gasthof zurückgekehrt, spann Norbert Jacques die Ideen, zu denen der Anblick des fremden Passagiers inspiriert hatte, weiter aus. Tagsüber schrieb er, nachts feierte und trank er mit den Bauern aus Vorarlberg und Bayern, die im Wirtshaus unter seinem Zimmer ihre Feste feierten.

“Der Fußboden unter der Tischplatte, auf der sich die Manuskriptseiten mit Schriftzügen bedeckten, vibrierte von dem brausenden Gelärm der vom Wein zu heftiger Fröhlichkeit empor gerissenen Trinker. Geige und Ziehharmonika machten Musik dazu.”

Norbert Jacques in fortgeschrittenem Alter

Dem Flämischen entnahm er den Landschaftsnamen ‘Mabuse’, dessen Klang in das Mystische und Mythische einer Persönlichkeit einstimmte, “die in einer Zeit lebte, in der man ein großer Verbrecher sein musste, um ein großer Mensch zu sein”. Die rasante Entstehung und rauschhafte Sturzgeburt Mabuses wurde in den Roman hineingetragen und trägt dort Protagonisten und Leser mit sich fort. Die 21 Kapitel sind geronnenes Tempo. In einer nur über das Notwendige unterrichtenden, auf jegliche Ornamentik verzichtenden Sprache wird der Leser vorwärtsgedrängt und findet sich wie die Figuren in hastiger Eile durch das Deutsche Reich der 20er Jahre gehetzt. Mabuse und sein Gegenspieler, Staatsanwalt Wenk, jagen einander mit Automobilen, Motorbooten und Propellerflugzeugen von München bis nach Berlin, vom Bodensee bis zur Meeresküste. Ihre Charaden und Ränke entblößen einen manischen Aktionismus, dessen Ursache nicht in den Charakteren selbst zu liegen scheint. Sie gleichen Getriebenen, denen die wirbelnden Verhältnisse der Nachkriegszeit ideale Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Von Verachtung für die Obrigkeit getragen, die sich seinen Zielen sperrt, setzt sich Mabuse über jegliche gesellschaftliche Konventionen hinweg. Der verkrustete alte Kontinent Europa ist ihm ein Gräuel.

“Er konnte nicht leben in diesen Ländern. Er fühlte sich wie in eine Weide eingespannt. Gras fressen wie die dummen Kühe! Das vorgeschriebene, eingehegte Gras! Nein! so vermochte er nicht zu leben.”

Dennoch bietet ihm erst der nach dem Ersten Weltkrieg umgestülpte deutsche Staat die Bedingungen, eigenen Zielen nachzugehen. Er benutzt die in Unordnung geratene Welt, um sich Geld zu verschaffen. In den Urwäldern Brasiliens will Mabuse Land erwerben und dort das allein auf seinen Willen hin ausgerichtetes Kaiserreich Eitopomar aufbauen. Weit weg vom alten Kontinent Europa. Mabuse bedient sich einer kriminellen Organisation, die er mit Charisma und Terror regiert, um gewinnträchtig mit der Zwangswirtschaft zu spekulieren und Rauschmittel zu verschieben. An den illegalen Spieltischen der deutschen Großstädte trifft er auf die Angehörigen einer zerrütteten und fragmentierten Gesellschaft, deren letztes Amüsement das Spiel ist.

“Man spielte straßein, straßaus, hausauf und -ab, man spielte mit Karten, mit Waren, mit Gedanken und mit Genüssen, mit der Macht wie mit der Schwäche, mit dem Nächsten wie mit sich selber.”

Das Spiel ersetzt den Menschen den Herzschlag, den Staat und Wirtschaft nicht mehr geben. Mit Masken sein Äußeres verändernd, fällt es Mabuse leicht, Eingang in die Kreise der Spieler zu finden.

“Geschlossene Gesellschaften gab es ja nicht mehr. Das Geld war ein Schlüssel auf alle Schlösser, ein Pelzmantel bedeckte jeden Beruf, wenn man ihn anhatte, und eine Brillantennadel überstrahlte jeden Charakter.”

Bald geht das Wort vom geheimnisvollen Fremden, der die Spielleidenschaft seiner Opfer mit hypnotischen Kräften befördere, ihnen den Willen beuge und sie zwinge, im Kartenspiel ’21′ phantastische Geldsummen an ihn zu verlieren. Staatsanwalt Wenk erkennt in dem nicht greifbaren Fremden die Bedrohung, die Staat und Gesellschaft vollends zerstören würde, ließe er ihn weiter mit dem Spiel das Volk zermürben, das die Gefahr nicht erkenne und dem Verbrecher sein Treiben erleichtere.

“Es ist durch und durch krank! Woher kann es gesund sein – nach solchen Jahren und einem solchen Leben!”

Mit Sondervollmachten ausgestattet macht er sich auf, den Unsichtbaren zu jagen und die Ordnung wiederherzustellen. Beide Parteien bauen Gefolgschaften auf, um sie gegen die andere Seite in Stellung zu bringen. Cara Carozza, das Mädchen, “das in der ‘Bonbonniere’ Grotesktänze aufführte”, der Industriellensohn Hull und die Gräfin Dusy Told finden sich den Kraftfeldern des hypnotischen Charismatikers Mabuse und des energischen Staatsanwalts ausgesetzt. Hin- und hergezogen zwischen beiden wird die Schwarz-Weiß Kontrastierung ad absurdum geführt und stattdessen eine Melange etabliert, in die sich nach hastiger Abfolge der Bilder bald auch der Leser verliert. Der Charakter Mabuse fasziniert durch seine Arroganz und pathetische Erhöhung. 

“Er war sich selbst genug. Was waren ihm die Menschen? Sein Wille machte sie zunichte.”

Ein nach Kognak und Liebe Süchtiger geriert sich als ‘Übermensch’, der versucht, sich eigene Gesetze zu schaffen und unberührbar durch menschliche Sorgen und Ängste scheint.

“Jeden Tag brennt der Hass alles Blut auf, das mir in den Adern läuft, und jede Nacht sauge ich sie mit einem neuen Menschenblut voll.”

Unbelastet von moralischen Skrupeln lebt Mabuse sein Leben, das nur einem Primat folgt: Mabuse. Er weiß, welches Schicksal ihm von der Gesellschaft droht.

“Wenn mich die Menschen fangen, zerreißen sie mich in Stücke.”

Er selbst glaubt, sich von eben diesen Menschen emporgehoben zu haben. Und doch bleibt er ein sich selbst nicht sicherer Mensch, durchwütet von der Leidenschaft des Spiels. Und Mabuse verliebt sich. . .

Mabuses Spiel mit seinem Verfolger endet, dem Anspruch des Romans angemessen, nicht auf dieser Erde. Ein Flugzeug fegt durch die Wolken. Staatsanwalt Wenk ist mit Stricken an die Außenwand der Propellermaschine gebunden. Ob ihm viertausend Meter hoch genug seien, fragt Mabuse und beginnt, die haltenden Seile zu lösen. Seine Augen sind ohne Form und gleichen alten, verwitterten Steinen. “Ich habe Ihnen den Knebel vom Mund gerissen”, hört Wenk es durch den Motorenlärm des Fliegers schreien, “dass ich mich an dem Schrei ergötze, mit dem Sie die viertausend Meter zurück zu Ihrer Welt fallen!”

Norbert Jacques bereute es bald, einen seiner Helden in dieser Szene in den Tod fallen gelassen zu haben. Als er 1930 und 1932 die Fortsetzungsromane “Mabuses Kolonie” sowie “Dr. Mabuses letztes Spiel” schrieb, korrigierte er den absoluten Schluss und ließ dem Gefallenen eine wunderbare Rettung widerfahren. Als die ‘Berliner Illustrierte Zeitung’ ab September 1921 den fertig gestellten Roman als Serie veröffentlichte, fand ‘Dr. Mabuse, der Spieler’ ein begeistertes Publikum. Das Buch, bei Ullstein herausgegeben, wurde zu einem Bestseller. Die ein Jahr später erschienene Verfilmung von Fritz Lang macht Dr. Mabuse endgültig zu einem der vielen Symbole des Weimarer Inflationsjahres.

Der Fehler sollte umgangen werden, aus rückwärts blickender Schau, Norbert Jacques zu einem warnenden Propheten umzuwerten, der das Verführertum der bald aufstrebenden Hitlerbewegung in der Figur des charismatischen Dr. Mabuse bündelte. Mögen diese Maßstäbe mit höherer Berechtigung an den nachfolgenden Romanen der frühen 30er Jahre durchaus angelegt werden, für den Erstling soll ihnen die Geltung entzogen bleiben. Die Hypnosis einer Massengesellschaft wird prognostiziert und zugleich ein Archetyp des psychologischen Kriminalromans geboren. Denn recht “viele Menschen von damals hätten Dr. Mabuse sein mögen.”

Bruten Butterwek