Neben allem, was die Schöne an der Schelde dem Touristen bietet und in jedem Reiseführer nachzulesen ist, hatte die Stadt eine besondere Überraschung für mich bereit – eine echte DECAP-Orgel.
Antwerpen – Marktplatz mit Liebfrauenkathedrale
Antwerpen – am Ufer der Schelde
Riesenrad am Weihnachtsmarkt (c) Reise Leise
Antwerpen – Brabo-Denkmal
Belgische Orgeln – DECAP und Bursens
Eine Tradition soll leben
Im vorigen Jahrhundert waren fahrbare Orgeln in Belgien sehr beliebt. Sie spielten auf der Kirmes oder im Tanzsaal, ließen sich relativ leicht von Ort zu Ort transportieren und ersetzten so ganze Orchester oder Bands. Die Älteren können sich noch sehr gut an die Zeit erinnern, als sie zu den gewaltigen Klängen dieser Musikmaschinen das Tanzbein schwangen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es zu einer erhöhten Nachfrage nach Musikautomaten und etliche Firmen kamen mit ihren Produkten zu einer großen Blüte. Im Zuge der Weiterentwicklung von Aufnahme- und Wiedergabetechniken veränderte sich der Bedarf und viele der meist Familienbetriebe gaben auf. Einige von ihnen kamen jedoch in den 50er Jahren zu einer zweiten Blüte.
Am bekanntesten sind die Firmen Bursens und DECAP. Während Bursens noch bis 1977 weltweit lieferte, blieb DECAP weiterhin bestehen und produziert bis heute ihre wunderbaren Musikmaschinen, die z.T. auf ganz besondere Kundenwünsche abgestimmt werden.
Traditionsbewusste Belgier kümmern sich heute liebevoll um alte Exemplare, restaurieren sie und stellen sie wieder zur schau. Einer von ihnen ist Alberic Godderis, der die älteste bekannte Bursens-Orgel mit dem Namen “Heen & Weer” auffand, ersteigerte, restaurierte und nun wieder in der Öffentlichkeit zeigt.
Der im flämisch-niederländischen Sprachraum bekannte belgische Liedermacher/Sänger Guido Belcanto hat seiner Liebe zur DECAP-Orgel, die er aus Kindertagen gut in Erinnerung hat, ein Denkmal gesetzt: er ließ sich von DECAP eine Orgel, ganz abgestimmt auf seine Musik, bauen und seine Titel entsprechend arrangieren. Auf dem Album “Balzaal der gebroken harten” (Ball saal der gebrochenen Herzen) hat er diese Lieder veröffentlicht. Dem Album liegt auch eine DVD bei, auf der der Bau der Orgel gezeigt wird. 2014 ging er mit der DECAP auf Tour – leider hatte ich keine Gelegenheit, das zu erleben.
Bursens
Bursens haben ihre Orgeln (“straatorgels”) für den Außenbereich gebaut. Für Tanzfeste, Kirmes und andere Open-Air-Festivitäten konnten die Automaten gemietet werden. Instrumente sieht man nur wenige, alles ist geschützt verbaut. Prachtvolle Verkleidungen machten jede Orgel zu einem unverwechselbaren Einzelstück. Sie erhielten namen wie “De witte kat” (die weiße Katze), “Heen en weer” (hin und her).
“Heen & Weer” von Bursens (c) Reise Leise
Rückseite: “Heen & Weer”
Bursens produzierte von 1908 bis 1977.
DECAP
DECAP-Orgeln waren im Innenbereich vertreten: in Kneipen, Tanzsälen oder Cafés, meist an einer Wand fest verbaut. Aufgrund des Einsatzes zum Tanz im geschlossenen Raum wurde hier die Klangvielfalt noch erweitert und sichtbare Instrumente eingesetzt – Pauke, Trommeln, Akkordeon, Saxofon etc.
DECAP-Orgel im “Café Beveren” (c) Reise Leise
DECAP wurde 1902 gegründet und besteht bis heute.
Orgelerlebnis in Antwerpen
Ein Gespräch mit Alberic
Auf unserem Spaziergang durch das bunt beleuchtete Antwerpen in Richtung Schelde waren Orgelklänge schon zu hören, bevor das Instrument überhaupt zu sehen war. Zunächst hielt ich es für die Musik eines Rummelplatz-Karussells, doch als wir näher kamen, stand da eine wunderschöne fahrbare Orgel wie aus einer anderen Zeit:
“Heen & Weer” von Bursens Foto (c) Reise Leise
Zur Geschichte der “Heen & Ween”
Wunderschön präsentierte sich dieses Kleinod. Man konnte gar nicht anders als stehen zu bleiben und der Musik zu lauschen. Auf der Rückseite konnte man die Mechanik sehen und auch die Papierbücher, die durch den Lesemechanismus aus Lochpappen Musik machen.
“Lesestoff” für die “Heen & Ween”
Hier stand, ganz im Hintergrund, ein junger Mann, bei dem es sich um den “Retter” dieser ältesten bekannten Bursens-Orgel handelte: Alberic Godderis.
Alberic hat seine Leidenschaft für die Orgeln in handfeste Praxis umgesetzt – mit 15 Jahren erlernte die Grundlagen des Orgelbaus und baute die Orgel “Den Ara”. Er schloss die mittlere Reife ab und studierte Ökonomie.
Während des Studiums verlieh er “Den Ara” für Veranstaltungen und wurde mit kleineren Aufträgen beschäftigt. Und wie es kommen musste – er entschied sich letztendlich, sein Hobby zum Beruf zu machen.
Im Alter von Anfang 20 wagte Alberic sich an den Kauf einer alten Orgel – der “Heen & Weer”. Er kratzte buchstäblich alle Reserven zusammen, um an einer Auktion teilzunehmen. Und bekam doch nicht den Zuschlag. Den Besitzer der “Heen & Weer” beeindruckte die Hartnäckigkeit des jungen Mannes jedoch und er entschloss sich, die Orgel nicht nach Japan zu verkaufen, sondern, für weniger Geld, den Zuschlag an Alberic zu geben. Die Orgel sollte im Land bleiben! Respekt !
Nun steht das Prachtstück wieder in Funktion und kann gemietet werden – wie hier in Antwerpen.
Mit Stolz berichtet Alberic von seiner Arbeit und ich frage ihn nach der Orgel, die mir dem Namen nach durch die Musik von Guido Belcanto bekannt war – nach der DECAP. Alberic erklärte mir den Unterschied zwischen beiden Instrumenten und erwähnte beiläufig, dass wir ganz in der Nähe eine echte DECAP sehen könnten. Er beschrieb uns den Weg und wenig später fanden wir das “Café Beveren” (Achtung: im Niederländischen bedeutet “café” Kneipe! Ein Café in unserem Sinne ist ein “eetcafé” oder “tearoom”.
Ganz unscheinbar in einem Eckhaus, Vlasmarkt 2, fanden wir die beschriebene Kneipe – das Café Beveren oder Café DECAP. Hier also sollte also das Wunderwerk stehen – nichts wie hinein:
Café Beveren/ Orgel DE CAP
DECAP-Orgel im Café Beveren
Café Beveren
DECAP-Orgel im “Café Beveren” (c) Reise Leise
Äußerlich ganz unscheinbar, ist diese Kneipe doch ein kleines Stück altes Antwerpen. Sie ist mit 100 Jahren eine der ältesten Bars in Antwerpen. Hier ist es nicht stylisch oder schick, weder nachgemacht-nostalgisch noch spießig überdekoriert (was man in Flandern sowieso nicht findet). An den vier Tischen und am Tresen sitzen einfache Leute beim Feierabend-Bier, lauschen der altmodischen Music-Box und unterhalten sich im Antwerpener Dialekt.
Die Bardame macht ihre Witze und gestattet mir Innenaufnahmen. Nur wenn sie mit aufs Bild solle, würde es etwas kosten…. Auch im Sinne der Persönlichkeitsrechte habe ich also Schnappschüsse versucht, wenn gerade niemand im Bild war:
Im Café Beveren
Firmenschild an der DECAP
Saxofon an der DECAP-Orgel
Jukebox wie in alten Zeiten…
Tatsächlich ist die Atmosphäre schon beeindruckend und irgendwie wie eine Zeitreise in die 50er Jahre. Bis hierher waren wir schon völlig zufrieden und tranken unseren Kaffee, entspannt und dem ungewohnten Dialekt lauschend.
Am Nachbartisch kramten ein paar ältere Herrschaften kichernd in ihren Geldbörsen. Ich beachtete es nicht weiter, war ich doch der Überzeugung, sie wollten bezahlen. Ein Herr stand dann auf und ging in Richtung Durchgang zu den Toiletten. Auch ganz normal, wäre er nicht stehen geblieben – und eine Sekunde später ertönte ein ohrenbetäubender musikalischer Lärm aus der bis dahin stillen DECAP! Meine Güte, die kann wirklich ganze Säle beschallen. Die anderen Gäste waren genauso erschrocken, lauschten dann aber doch, wie wir auch, mit einem breiten Lächeln im Gesicht der aus dem Schlaf gerissenen Tanzorgel. Was für eine Überraschung!
Also, wer den Weg in diese Kneipe findet, achte mal auf dieses Schild, über dem Tisch links von der DECAP:
1 Euro für die Orgel bitte!
Leider sind DECAP, Bursens, Alberic Godderis und selbst Guido Belcanto so speziell belgisch, dass ich keine deutschen oder englischen Links bieten kann. Die Quellen sind fast ausnahmslos in Niederländisch.
(Fotos mit freundlicher Genehmigung von Alberic Godderis und Café Beveren)