© Mathias Bothor
Kürzlich saß ich stundenlang zwischen den Bibliotheksregalen und dachte über meine Zukunft nach. Die aufgereihten Bücher vor Augen, erinnere ich mich daran, wie sehr ich mir als Kind das Recht ersehnte, lesen zu dürfen, wie viel ich für das Wissen riskierte und wie die Freude, zu lesen, stets die Angst überwog (S. 297).
Wenn Deborah Feldman im letzten Drittel ihres autobiographischen Romans diese Gedanken ausspricht, dann hat sie die wichtigsten Schritte zur Realisierung ihres Traumes, Brooklyn zu verlassen, bereits getan. Aufgewachsen in der chassidischen Satmar-Gemeinde in Williamsburg visualisiert sie bereits als kleines Mädchen jene mutige Frau, welche die streng orthodoxe Gemeinde irgendwann verlassen wird. Noch weiß sie nicht, wie sie das schaffen soll. Zu hart sind die Regeln, zu stark ist die Beobachtung durch die Familie und den Rebbe. Englischsprachige Bücher sind verboten, die Farbe Rot zu tragen, ist verboten. Jahrelang lebt sie in zwei Welten: angezogen vom Universum, das auf der anderen Seite des Tores lag, zurückgerissen von den Warnungen, die wie Alarmsirenen in meinem Geist erschallten (S. 147).
Sie ist bereits Mutter eines kleinen Sohnes, als sie begreift, dass es Zeit ist, diesen Traum endlich zu verwirklichen, denn auf Yitzi warten ähnliche Beschränkungen, wie jene, welche sie als kleines Mädchen erfahren musste. Eines Tages werde ich frei sein, und Yitzi auch (S. 289).
Ich bewundere dieses kleine Mädchen von der ersten Zeile dieses großartigen Romans an. Wie es heimlich in Antiquariaten und Bibliotheken nach englischen Romanen stöbert. Wie es später Bücher bei Barnes & Noble kauft und diese nach Hause schmuggelt. Betritt Großvater Zeidi überraschend das Zimmer, verschwindet das Buch unter der Matratze und Deborah bringt ihre Gesichtszüge schnell in Form … eine Form, von der ich denke, ein gutes Mädchen würde sie tragen – lammfromm, leer, bescheiden … Ich bin nicht das eydel Meydel, das sittsame Mädchen, das er so mühsam erschaffen hat (S. 117).
Das stürzt sie natürlich in riesige Konflikte, denn eigentlich möchte sie dieses brave Mädchen sein, kann das aber nicht leisten, weil sie viel zu neugierig geworden ist durch die im Geheimen gelesenen Romane. Sie beschließt sehr früh, ihr Leben nicht zu verplempern, wie all die anderen jüdischen Mädchen der Gemeinde, die mit 16 oder 17 Jahren verheiratet werden. Doch auch für sie wird, kaum ist sie siebzehn, eine Ehestifterin engagiert, weil es mit 21 Jahren bereits schwer wird, ein Mädchen zu verheiraten.
Kann die Ehe eine Verbesserung ihrer Situation bringen? Noch hofft Deborah auf einen modernen orthodoxen Juden, der sie Bücher lesen und Geschichten schreiben lässt. Der ihr gestattet, mit der Metro durch New York zu fahren. Mich beschleicht ein seltsames Gefühl der Angst. Aus anderen Romanen weiß ich bereits zu viel. Und ich habe Dinge erfahren, welche die 17-jährige Deborah nicht einmal ahnen kann. Ich denke beispielsweise an den Roman Die Hochzeit der Chani Kaufman … und lese atemlos weiter. Ähnlich wie bei Chani in London, so erscheint mir auch hier, als geschähe all dies in einer längst vergangenen Zeit. Deborah Feldman beschreibt uralte jiddische Traditionen, welche man längst vergessen glaubt. Da ist die täglich anrufende Ehestifterin und viel später dann die erste Begegnung des Brautpaars. Beide sind sich noch nie begegnet. Akribisch sind die Regeln für die Mikweh, das rituelle Bad für verheiratete Frauen. Als chassidische Frau hat man in der Ehe einen Shpitzel, die jiddische traditionelle Kopfbedeckung, zu tragen … Nur Gespräche über das, was die Mädchen nach der Hochzeit wirklich erwartet, gibt es nicht.
Heute Abend werde ich sicher noch viel mehr erfahren über den Roman und über Deborah Feldman, die mit ihrem Sohn Yitzi in Berlin lebt. Gemeinsam mit dem Verlag Secession ist die Autorin um 20 Uhr auf der Probebühne im Berliner Ensemble zu Gast. Moderiert wird die Veranstaltung von Anja Bröker. In wenigen Tagen werde ich auf We read indie von dieser Begegnung erzählen. Ich finde das ein ganz großartiges Zeichen, am Internationalen Frauentag eine Autorin zu präsentieren, die mit so unendlich viel Mut und Klugheit den Weg in ein freies und selbstbestimmtes Leben gefunden hat. Ganz ehrlich … ich hab wahnsinniges Herzklopfen.
Deborah Feldman. Unorthodox. Eine autobiographische Erzählung. Aus dem Englischen Christian Ruzicska. Secession Verlag für Literatur. Zürich 2016. 316 Seiten. €