Debatte: Selbstmord aus Angst vor dem Tod? - Die SPD vor der Entscheidung

Von Oeffingerfreidenker

Der Koalitionsvertrag hat von allen Seiten Kritik hervorgerufen. Darunter befindet sich Kritik, die von hemmungslosem Idealismus und Utopievorstellungen geprägt ist, parteitaktisch motivierte Kritik, sachlich falsche Kritik - und, natürlich, auch berechtigte Kritik. Aber was ist eigentlich was und warum? Jan Falk und Stefan Sasse diskutieren das Minenfeld Koalitionsvertragskritik und die anstehende SPD-Abstimmung.

Jan Falk: In den letzten Tagen war ja in den Medien zu lesen, die SPD-Basis schwenke gerade auf ein “Ja” zum Koalitionsvertrag um. Sigmar Gabriel hat tatsächlich ordentlich geackert und erarbeitet sich gerade ein Standing in der Partei, wie es lange kein Vorsitzender mehr hatte. Unter diesem Aspekt ist übrigens auch seine Konfrontation mit Marietta Slomka im ZDF Heute-Journal zu verstehen. Aber: Ich halte es noch für gar nicht so sicher, dass die Basis wirklich zustimmt. Zwei Punkte: Eine zuletzt vielzitierte Umfrage hat tatsächlich eine breite Zustimmung der SPD-Anhänger gezeigt, nicht aber ihrer Mitglieder. Das könnte ein größerer Unterschied sein als vermutet. Anhänger dürften die Frage pragmatischer, oder, wenn man es negativ formulieren möchte, nachlässiger bewerten. Zweitens gibt neben einigen vielleicht objektiv nachvollziehbaren Gründen für eine Ablehnung der Koalition auch viele, sehr viele individuelle, schlechte und erratische Gründe gegen eine Zustimmung. Die könnten sich summieren. "Ich habe meine Leidenschaftsthemen. Und ich möchte, dass meine Leidenschaftsthemen im Koalitionsvertrag berücksichtigt werden”, so vergangene Woche ein SPD-Mitglied auf einer Regionalkonferenz gegenüber Andrea Nahles. Das bringt die Problematik glaube ich ganz gut auf den Punkt.

Stefan Sasse: Die Gefahr besteht natürlich. Wenn allerdings das Verhalten der SPD in der Vergangenheit eine Richtgröße ist, dann werden sie den Vertrag zähneknirschend annehmen. Sie haben die Agenda2010 und die Rente mit 67 zähneknirschend geschluckt, da wäre es schon ein Treppenwitz der Weltgeschichte, diesen sozialdemokratischsten Koalitionsvertrag seit 1998 nicht anzunehmen. Ich denke aber tatsächlich, dass der aufsummierte Unwillen über den Vertrag zum größten Teil auf den falschen Gründen beruht. Die SPD hat in den vier Jahren Opposition ihr Selbstvertrauen wiedergewonnen, besonders in einer für die Partei akzeptablen Abgrenzung gegenüber der CDU (“Wir sind sozial”) und gegenüber der LINKEn (“Wir sind verantwortlich”). Dieses Selbstvertrauen rangiert sich vor allem an der Negativfolie der Agenda-Reformen ab, die die SPD-Führung inzwischen tatsächlich in vielen Bereichen - wenngleich nicht grundsätzlich - in Frage stellt. Zusammen mit der ständigen Beschwörung einer rot-grünen Koalition als Wunschziel, gewissermaßen einer Neuauflage von 1998, nur “diesmal richtig”, dürfte das bei einigen für eine verzerrte Wahrnehmung des politisch Konsensfähigen und damit Durchsetzungsfähigen geführt haben. Jan Falk: Die SPD weiß wieder, was sie will, sie hat in vielen wichtigen Punkten die Wähler hinter sich, und insgesamt auch den Zeitgeist, der doch nach der Finanzkrise deutlich nach links umgeschwenkt ist. Und dennoch: Selbstvertrauen sieht anders aus. Mit Selbstvertrauen würde die SPD weniger unwillentlich in diese Koalition gehen, ohne Angst, schon wieder ihre Identität durch (bestimmt in der Legislatur auch anstehende) realpolitisch schwierige Entscheidungen aufgeben zu müssen. Diese Sicherheit in der Unterscheidung zwischen dem, was gerade politisch möglich ist, und dem, was man eigentlich inhaltlich will, und dies auch deutlich und überzeugend kommunizieren zu können, geht doch vielen, die sich “links” nennen, ob nun in der SPD oder auch z.B. in weiten Teilen der Twittersphäre, deutlich ab. Stattdessen sieht man immer wieder diese gesinnungsethische bzw. idealistische Schieflage in der Debatte, die jeden Kompromiss nur als Verrat verstehen kann.

Stefan Sasse: Was mich besonders stört ist die ständige Verdrehung der Begriffe, um die eigene Position zu legitimieren. “Demokratie” etwa ist immer, wenn so entschieden wird, wie man das will, sonst war es Manipulation. Das sieht man gerade wieder am Mitgliederentscheid, dem allen Ernstes die Legitimation abgesprochen werden soll, weil die Parteiführung Werbung für ihre eigene Seite macht. Als ob es demokratisch wäre, nicht für seine Vorstellungen zu kämpfen!

Jan Falk: Was übrigens am Vorgehen der Spitze nach hinten losgehen könnte, ist die Entscheidung, die Besetzung der Ministerien noch nicht zu verraten. Macht einen das nicht als SPD-Mitglied misstrauisch? Haben die Sozialdemokraten nur die “Gedöns”-Ministerien abbekommen? Ohne das Finanzministerium jedenfalls wird der tatsächliche Gestaltungsspielraum in der Koalition nur halb so groß sein.

Stefan Sasse: Ich bin da nur eingeschränkt sicher. Ich halte das Finanzministerium eher für überbewertet. Oskar Lafontaine hat nichts damit anfangen können, als er sich gegen Schröder stellte, und Eichel hat bewiesen, dass die Position auch als Clownfabrik geeignet ist. Alle Macht geht von Merkel aus. Wenn die SPD in der Lage ist, Merkel ihren Willen aufzuzwingen, dann wird die Schäuble mobilisieren - wir haben das in den letzten vier Jahren bereits gesehen. Gegen Merkel hilft der SPD auch das Finanzministerium nichts. Jan Falk: Das sehe ich ein bisschen anders. Aber worauf es mir ankommt: Zum Inhalte durchsetzen gehören auch die entsprechenden Persönlichkeiten an den Hebeln der Macht. Eine Abstimmung ohne das Personal zu kennen: Das ist eine unglückliche Entscheidung - die scheinbar aus Angst vor solcher Bullshit-Kritik wie “die sind nur scharf auf die Posten und Dienstwagen” getroffen wurde.

Stefan Sasse: Es gehört für mich zu dem großen Idealismus- bzw. Utopiegedöns, dass ständig so getan wird, als seien Posten reiner Ausdruck von Machtgier. Erstens ist ein Politiker ohne Machtgier so sinnlos wie ein Unternehmer ohne Profitstreben - Politik ist nichts anderes als die Verwaltung und Verteilung von Macht - und zweitens ist die Konsequenz aus dieser Forderung eine Utopie mit klinisch reinen Politikern, die einzig und alleine zum Wohle des Landes handeln. Und dieses Wohle des Landes, das ist der anti-demokratische Kern dieser Forderung, ist natürlich deckungsgleich mit “was ich gut finde”.

Jan Falk: Kommen wir mal zum Inhalt des Koalitionsvertrags. Es sind meiner Meinung nach einige ganz gute Punkte drin und wenig wirklich furchtbares. Aber man muss auch sagen: Es ist schrecklich viel Kleinkram. Für jedes Wehwehchen wird eine Kommission gegründet, auf irgendwen eingewirkt, irgendwas angestoßen, oft noch nicht einmal im Kompetenzrahmen der Bundesregierung. Das hat Nils Minkmar schön beschrieben: “Muss die Koalition jetzt schon das Jubiläum der Reformation 2017, das Bauhaus-Jubiläum, den 250. Geburtstag von Beethoven sowie das Deutsche Bienenmonitoring thematisieren?” fragt er sich zurecht. Die wenigen wirklich für große Bevölkerungsteile relevanten Punkte gehen da unter. Und ein großer Wurf ist ohnehin fast in keinem Bereich zu entdecken. Bei Klima und Europa sind riesige Leerstellen. Insofern halte ich den Vertrag für höchstens Mittelmäßig. Eine Anleitung zum Durchwurschteln. Aber er ist längst kein Grund für die SPD, ihn abzulehnen und damit fast sicher den Selbstmord aus Angst vor dem Tod zu begehen.

Stefan Sasse: Ich verstehe immer noch nicht, wie viele Leute sich noch diesen R2G-Fantastereien hingeben. Obwohl bereits vier LINKE-Abgeordnete öffentlich verkündet haben, das keinesfalls mitmachen zu wollen und eine grüne Zustimmung in den Sternen steht, wird ständig die Mär von einer “parlamentarischen Mehrheit” behauptet, mit der Lafontaine in der GroKo 2005-2009 ständig die SPD vor sich her trieb (“Kurt Beck könnte morgen Bundeskanzler sein”). Dieser Unfug ist völlig destruktiv und führt zu überhaupt nichts außer der sicheren Oppositionsbank, während die Grünen in die Arme der CDU getrieben werden.

Jan Falk: Ich habe heute zufällig auf Facebook von einem Bekannten aus meiner Studentenzeit aus Münster gelesen, der Juso ist und seine Ablehnung so begründete: “Ein NEIN von mir. Ohne eine seriöse Gegenfinanzierung durch Steuererhöhungen werden viele der verhandelten Punkte nicht umsetzbar sein.” Das finde ich eine merkwürdige Einschätzung. Denn sie greift den konservativen Talking-Point auf, die Regierung sei irgendwie teuer und verteile ohne Ende Geschenke. Dabei geht es um Mehrausgaben von 23 Mrd. über einen Zeitraum von vier Jahren. Also sechs Milliarden im Jahr. Das ist rund ein Prozent des Steueraufkommens des Jahres 2013 und laut Mark Schieritz von der ZEIT etwa 0,25% des BIP. Das ist natürlich angesichts des noch vor wenigen Tagen breit diskutierten Leistungsbilanzüberschusses des Landes eher zu wenig als zu viel. Insofern bin ich makroökonomisch mit dem Vertrag nicht wirklich zufrieden, wenngleich auch der Mindestlohn da noch eine bescheidenen Wirkung entfalten dürfte.

Stefan Sasse: Angesichts des Wahlergebnisses muss man das bereits als Erfolg werten. Davon abgesehen stimme ich dir überhaupt nicht zu, was den Talking Point anbelangt. Zwar gehe ich nicht davon aus, dass dein Studienkumpel so herum denkt, aber: der CDU diese Sprachregelung wegzunehmen ist elementar. Die Progressiven (nicht nur die SPD, die Grünen, LINKEn und Piraten ja auch) lassen sich ständig in die Geldausgeber-Ecke drängen, als ob das Rausschmeißen von Geld ihr liebstes Plaisire wäre, und überlassen der CDU die Rolle des pragmatischen Finanzhausmeisters. Dabei ist es ja gerade die Union, die die Kohle ständig zum Fenster rauswirft! Als Stichwort seien hier nur Mövenpicksteuer und Erziehungsgeld erwähnt. Was die Progressiven hier leisten müssen ist, die Gegenfinanzierung endlich aus ihrer aufkommensneutralen Ecke herauszuholen. Wenn die SPD die Interpretation offensiv vertreten würde, dass die entsprechenden Passagen im Vertrag ein Mandat für Einnahmenerhöhungen darstellen, würde sie massiv an Spielraum gewinnen (und dann auch ein Finanzministerium sinnvoll nutzen können, das angesichts der von dir beschriebenen Mickrigkeit der geplanten Ausgaben kaum mehr als den Mangel verwaltet).

Jan Falk: Da sind wir uns tatsächlich nicht einig. Es geht nicht ums Geld rauswerfen, sondern darum, endlich wieder zu investieren. In Infrastruktur, wo es mittlerweile einen riesigen Investitionsstau gibt, in Bildung, vor allem auch in Energieeffizienz und erneuerbare Energien. “Es passiert immer noch zu wenig. Trotz Klimawandel, Energiewende und steigender Energiekosten ist der Verbrauch in Deutschland seit 1990 nur leicht rückläufig. [...] Ein Grund für die Reformträgheit ist der Unwille, Geld auszugeben”, so eine gute Analyse in der SZ, warum wir bei der Energiewende kaum vorankommen. Sicher kann man sich da ein progressiveres Steuersystem zur Gegenfinanzierung wünschen. Aber man muss auch mal grundsätzlich das Verständnis von Schulden, dass hierzulande so dominant ist, infragestellen. Schäuble hat vor, innerhalb von vier Jahren die Schuldenquote von 81% auf unter 70% zu senken. Innerhalb von vier Jahren! Wenn Du eine Umfrage in der Bevölkerung machen würdest, würden bestimmt 80% oder so sagen, der Staat solle alle seine Schulden zurückzahlen. Und diese Narrative sollen die Linken anerkennen und der Schwäbischen Hausfrau das Feld räumen?

Stefan Sasse: Du missverstehst mich. Ich halte das auch für kompletten Unsinn. Es gibt keinerlei Grundlage, diese Schulden einfach mal so runterzufahren, außer für Beibehaltung der aktuellen Quote bei hohem Wachstum. Beides ist unrealistisch. Nein, worum es mir geht, ist die Investitionen nicht in den Schuldendiskurs zu drücken - denn das ist ein absolutes Loser-Thema - sondern sie stattdessen positiv mit der Steuerthematik zu verquicken. Was klappen muss ist, dass die Union mit ihrer Steuererhöhungsverweigerung als Gegner von Bildung und Autofahrern dasteht. Da würde Merkel springen.

Jan Falk: So kann man es sicher sehen. Aber das ist ja im Laufe der nächsten vier Jahre für die SPD immer noch eine Möglichkeit. Überhaupt wird das für die SPD elementar wichtig: Eine gute Balance zwischen eigenem Profil und “Funktionieren” in der Regierung. Die eigenen, über die aktuellen Policies gehenden Ziele müssen stets weiter erkennbar sein. Ich bin mal gespannt, wie sich das abspielt. Meine Vermutung: Durchaus anders als unter Münte und Steinmeier vor acht Jahren.

Stefan Sasse: Ich bin grundsätzlich optimistisch. Meine Wette lautet weiterhin, dass die SPD 2017 definitiv besser abschneiden wird als 2013. Bildnachweise (Alle Flickr/cc): Jens Bullerjahn, Mathias Penke, SPD Edertal, Marcus Sümnick