Die inhaltliche Debatte zum Recht auf die Stadt hat unterdessen schon begonnen. Die aktuelle Ausgabe des ak (Analyse&Kritik) hat das Thema zum Schwerpunkt erhoben und gleich drei längere Beiträge ins Blatt genommen:
- Wenn das politische Bandmaß versagt. Das Hamburger Netzwerk Recht auf Stadt bereitet (sich auf) einen Kongress vor
- Ein Anspruch an die Bewegungen selbst. Zur Theorie und Praxis der internationalen Kämpfe um das Recht auf Stadt
- Trennlinien der Städte. Wie geschlechtliche und andere soziale Zuschreibungen sich im Räumlichen der Stadt wiederfinden (leider nicht im Onlineangebot des ak)
Der Beitrag von Dirk Gebhardt und mir ist eine gekürzte und leicht veränderte Fassung unseres Einleitungsbeitrages im Sammelband „Initiativen für ein Recht auf Stadt: Theorie und Praxis städtischer Aneignungen“ (Hamburg: VSA), der pünktlich zum Kongress aus der Druckerei erwartet wird.
Ein Anspruch an die Bewegungen selbst
Zur Theorie und Praxis der internationalen Kämpfe um das Recht auf Stadt
von Dirk Gehardt und Andrej Holm
Unter dem Motto Recht auf die Stadt konstituieren sich weltweit neue städtische Protestbewegungen, die gegen die neoliberale Hegemonie eigene Ansprüche an den städtischen Entwicklungen einfordern. Die Aktivitäten und Forderungen, die sich auf den Slogan beziehen, sind dabei sehr vielfältig: in New Orleans fordern die MieterInnen der Sozialwohnungssiedlungen die Rückkehr in ihre preiswerten Wohnungen und in Hamburg besetzten KünstlerInnen die letzten historischen Gebäude im Gängeviertels. Kaum ein Stadtprotest der letzten Jahre, kaum eine städtische soziale Bewegung, die nicht auf die Parole Recht auf die Stadt zurückgriff. Dirk Gebhardt und Andrej Holm gehen den politischen und theoretischen Dimensionen der Forderung nach.
Am Anfang war das Wort: »Le droit à la ville«
Die Forderung nach einem Recht auf die Stadt geht auf den französischen Philosophen Henri Lefebvre zurück, der dieses in seinem Text „Le droit à la ville“ von 1968 als ein Recht auf Nichtausschluss von den Qualitäten der urbanisierten Gesellschaft beschrieb. (ak 550) Dies geschah vor dem Hintergrund der Erfahrungen des fordistischen Klassenkompromisses, der in den funktionalen, modernen Stadtplanungen unbefriedigende Lösungen hervorbrachte, die viele Bedürfnisse unbefriedigt ließen. So wurde etwa das Recht auf Wohnung in den Projekten des Massenwohnungsbaus nur unter dem Verlust anderer Qualitäten bedient. Insbesondere die Stadt als offener Raum des kulturellen Austausches und der Kommunikation war hier nicht zu finden – so die Argumentation von Lefebvre.
Weit über eine bloße Veränderung der Stadt hinaus versteht Lefebvre das Recht auf die Stadt als kollektive Wiederaneignung des städtischen Raumes. Diese soll zu einem veränderten, erneuerten städtischen Leben führen, das am Gebrauchswert der Stadt orientiert ist, wo „der Austausch nicht über den Tauschwert, Handel oder Gewinn vermittelt ist“. Das Recht auf die Stadt umfasst das Recht auf Zentralität, also den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastruktur und des Wissens. Es umfasst auch das Recht auf Differenz, das für eine Stadt als Ort des Zusammentreffens, des Sich-Erkennens und Anerkennens und der Auseinandersetzung steht. Das Recht auf Stadt bezieht sich also gleichzeitig auf die Stadt als physische Form und auf die mit ihr in Wechselwirkung stehenden sozialen Verhältnisse und Praktiken. Es beschränkt sich nicht auf die konkrete Benutzung städtischer Räume, sondern umfasst ebenso den Zugang zu den politischen und strategischen Debatten über die künftigen Entwicklungspfade. Das Recht auf die Stadt orientiert sich an den utopischen Versprechungen des Städtischen und reklamiert ein Recht auf die schöpferischen Überschüsse des Urbanen.
In seiner Kritik der Verhältnisse in der fordistisch-kapitalistischen Stadt geht es Lefebvre nicht um die Situation der Angehörigen der gesellschaftlichen Eliten, die, wie Lefebvre sagt, „nicht mehr wohnen“, sondern ständig unterwegs sind und den Alltag transzendieren. Es geht um jene, die einem verordneten Alltag in der Stadt ausgesetzt sind: um die Jugendlichen, die Studierenden und Intellektuellen, die „Armeen von ArbeiterInnen mit oder ohne weißen Kragen“, die ProvinzlerInnen, die Kolonisierten und Semi-Kolonisierten aller Art, die im Elend der Banlieue, der „Wohngettos“, der heruntergekommenen Altstädte und des suburbanen Abseits leben – die buchstäblich an den Rand gedrängten Gruppen der fordistischen Stadt.
Globale Urbanisierung und neoliberale Stadtentwicklung
Die Rezeption des Rechts auf Stadt seit den 1990er Jahren trägt den Begriff von der soeben beschriebenen französischen Situation in sehr unterschiedliche Situationen in Lateinamerika, Südafrika, Nordamerika und Europa. Diesen verschiedenen Kontexten ist jedoch die Diagnose gemein, dass sich die Ausschlüsse unter neoliberalen Verhältnissen überall vermehrt und intensiviert haben. In Lateinamerika, noch stärker in Südasien und Afrika hat sich die Verstädterung oft in rasantem Tempo und zum größten Teil in Form informeller Siedlungen fortgesetzt. Grund sind Bevölkerungswachstum, Globalisierung und die u.a. von Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) herbeigeführte Verschlechterung wirtschaftlicher Bedingungen auf dem Land. Mittlerweile leben eine Milliarde Menschen in Slums. Die europäische Stadt erscheint so als die Ausnahme, und der „Planet der Slums“ (Mike Davis) mit seinen extremen Ausschlüssen ist zur Regel geworden.
Das Grundproblem der Kommodifizierung des städtischen Raums, die Unterordnung des Gebrauchswertes der Stadt unter ihren Tauschwert und der ungleiche Zugang zur Stadtgesellschaft und ihrer Ressourcen stellt sich heute also noch deutlicher als vor mehr als 40 Jahren für Lefebvre in Paris – auch wenn es für die dauerhaft ökonomisch ausgeschlossenen SlumbewohnerInnen eine noch größere Dringlichkeit besitzt als für die BewohnerInnen der westeuropäischen Städte.
Mit der stetig steigenden wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Städte setzt sich die neoliberale Neustrukturierung der Gesellschaft verstärkt in den Städten um und wird dort sichtbar. Gesellschaftliche Utopien und Alternativen sind daher in immer stärkerem Maß auch Alternativen für die Organisation des Städtischen. Mit dem Einfordern eines Rechts auf die Stadt verbindet sich die Hoffnung auf soziale Mobilisierungen und neue Bündnisse und auf eine Vergesellschaftung jenseits von Staat und Markt.
Die Rezeption des Rechts auf die Stadt ist unmittelbar mit sozialen Bewegungen und politischen Institutionalisierungsversuchen des Rechts auf Stadt verbunden. Zentral ist hier das 2001 begonnene Projekt der Habitat International Coalition (HIC), eines Zusammenschlusses von Nichtregierungsorganisationen im Umfeld des Weltsozialforums, einer Welt-Charta des Rechts auf die Stadt. Die von lateinamerikanischen Initiativen initiierte Arbeit an der Charta und der damit verbundene Austausch zwischen sozialen Bewegungen werden als Instrument gegen den Neoliberalismus und dessen Auswirkungen auf die StadtbewohnerInnen verstanden.
Die Welt-Charta definiert das Recht auf die Stadt als „gleiches Nutzungsrecht von Städten innerhalb der Prinzipien der Nachhaltigkeit, Demokratie, Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit“, als „kollektives Recht der BewohnerInnen, insbesondere der benachteiligten und marginalisierten Gruppen.“ Die Charta kodifiziert eine Vielzahl von sozialen, Menschen- und Freiheitsrechten, Rechte der politischen Teilhabe und Rechte des Zugangs zu Infrastruktur. Dabei ist das Recht auf die Stadt nicht als Zusatz auf einer Liste von Rechten, sondern eher als kollektiver Hebel zu deren Umsetzung gedacht.
Zeitgleich mit dem Beginn der Arbeit der HIC an der Welt-Charta wird mit den Stadt-Statuten in Brasilien (2001) versucht, das Recht auf die Stadt zu kodifizieren. Auf lokaler Ebene ist beispielsweise Mexico City 2010 mit einem Katalog von Rechten nachgezogen. Bereits im Jahr 2007 entstand die US-amerikanische Right to the City Coalition, in der sich soziale Bewegungen aus verschiedenen Großstädten zusammenschlossen, um für günstigeren Wohnraum, soziale Rechte und gegen Gentrifizierung zu kämpfen.
In Deutschland markieren wohl die Berliner Konferenz „The Right to the City“ 2008 und die vom BUKO-Arbeitsschwerpunkt Stadt/Raum und der Rosa Luxemburg Stiftung im gleichen Jahr durchgeführte Veranstaltung „Right to the City – soziale Kämpfe in der neoliberalen Stadt“ den Ausgangspunkt eines stärkeren Bezugs auf das „Recht auf die Stadt“. Dieser wird im Folgenden in vielen Städten, insbesondere von sozialen Bewegungen weiter getragen, unter anderem in Hamburg, wo die bislang wohl größte Mobilisierung unter diesem Schlagwort stattfand. Dabei ist auffällig, dass es auch in Deutschland zwischen den eher akademischen und eher aktivistischen Aktivitäten große Bezüge und Überschneidungen der Teilnehmerkreise gibt – und oft dieselben Personen in beiden Welten zugegen sind.
Welches Recht auf welche Stadt?
An wen wendet sich also, und für wen gilt das Recht auf die Stadt heute? Die Antwort der Stadtforschung als auch der sozialen Bewegungen lautet: die am stärksten Marginalisierten. Wie in Lefebvres Interpretation geht es um die BewohnerInnen, deren Anwesenheit nicht durch Staatsbürgerschaft, Visum, Besitz- oder Rechtstitel legitimiert ist, sondern um die, deren Anwesenheit prekär ist. Es geht um die ökonomisch Marginalisierten, um die, die nicht über das nötige Bildungskapital oder die Zeit verfügen, um ihre Interessen selbst in einer partizipativ angelegten Stadtentwicklung durchzusetzen. Es geht um die, die aufgrund einer gegenderten, heterosexuellen oder moralischen Ordnung informell oder formell aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen und von Gewalt oder von Vertreibung bedroht sind und die von der hegemonialen Raumordnung als störende Elemente im Raum identifiziert werden – um all die, denen das Recht auf die Stadt verweigert wird.
Peter Marcuse macht anhand von Lefebvres Charakterisierung des Rechts auf die Stadt als „Aufruf“ und „Forderung“ die Unterscheidung zwischen zwei Gruppen: Die „Forderung“ kommt von denen, deren elementarste materielle Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Der „Aufruf“ von den oberflächlich integrierten Entfremdeten. Das gemeinsame Handeln der ihrer fundamentalen Rechte Beraubten mit den Unzufriedenen und Entfremdeten bietet für Marcuse die größte Chance für die Durchsetzung des Rechts auf die Stadt. Somit lässt es sich nicht auf einzelne Projekte, Forderungen und Kontexte beschränken, sondern das Recht steht vielmehr für den Anspruch auf eine (Re)Politisierung der Stadtpolitik, verstanden als eine öffentliche Verhandlung über Dinge, von denen alle betroffen sind.
Vier Perspektiven für ein Recht auf die Stadt
Das Recht auf die Stadt wird vor allem für marginalisierte städtische Gruppen gefordert – die Debatten um den Begriff werden von sich kritisch verstehenden AkademikerInnen geführt. Sowohl in der akademischen Welt als auch in den Bewegungsansätzen scheint das Recht auf die Stadt seine Attraktivität gerade aus den flexiblen Interpretationsmöglichkeiten zu ziehen. Seminare zur historischen Einordnung der Werksgeschichte von Henri Lefebvre können unter dem Label „Recht auf die Stadt“ ebenso firmieren, wie Demonstrationen gegen steigende Mieten oder gesetzliche Verordnungen zur Erfüllung von UN-Beschlüssen. Tatsächlich wird der Begriff in unterschiedlichen Kontexten mit sehr verschiedenen Inhalten verbunden.
Doch hinter der scheinbaren Beliebigkeit lassen sich verschiedene Grundperspektiven erkennen, die in fast allen Bezügen zum Recht auf die Stadt aufgegriffen oder zumindest anerkannt werden. Das Recht auf die Stadt ist erstens eine Chiffre für eine an Lefebvre orientierte Perspektive auf die Stadt, es bietet zweitens Projektionsmöglichkeiten für gegenhegemoniale Visionen der Stadtentwicklung, wird drittens als Sammelbegriff für realpolitische Forderungskataloge verstanden und steht viertens für einen spezifischen, eher horizontalen Organisierungsansatz sozialer Bewegungen.
Ganzheitliche Perspektive. Das Recht auf die Stadt ist eine spezifische analytische Perspektive. Der vielfach aufgegriffene Recht-auf-die-Stadt-Essay von Henri Lefebvre kann nicht als geschlossene Theorie beschrieben werden, sondern lässt sich vor allem als Einladung zu einer spezifischen Perspektive auf Stadt und städtische Entwicklungen verstehen.
Das Städtische wird in dieser Perspektive aus seinem allzu engen Raumkorsett befreit und als zentraler Ausgangspunkt für die Produktion, Verteilung und Konsumption von Waren angesehen. Städte sind in diesem Verständnis nicht mehr nur die Arenen der politischen Macht oder Container der kapitalistischen Verwertungskreisläufe, sondern haben sich selbst zu Motoren und Gegenständen des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft entwickelt. In Anlehnung an Lefebvre wird die Stadt dabei als uvre, als Gesamtkunstwerk materieller, symbolischer und sozialer Prozesse verstanden, der eindimensionale materielle, ökonomische oder kulturellen Analyse nicht gerecht werden.
Das Recht auf die Stadt, so kann diese theoretische Perspektive zusammengefasst werden, beschränkt sich nicht auf die materiellen Veränderungen und Umverteilungen, sondern schließt Formen der symbolischen Repräsentation mit ein. Dies gilt nicht nur für den akademischen Blick auf die Stadt, sondern auch für die Mobilisierungsansätze von Protestbewegungen. Repräsentationen der Marginalisierten werden dabei nicht nur in den alltäglichen und politischen Auseinandersetzungen in umkämpften Räumen ständig neu ausgehandelt, sondern auch innerhalb der Recht-auf-die-Stadt-Bewegungen selbst. Insbesondere in breiteren Bündnissen ist die Frage, wer für ein solches Bündnis als SprecherIn wahrgenommen wird und wie einzelne Positionen in kollektiven Prozessen aufgenommen werden eine alltägliche Herausforderung.
Utopische Vision. Ein zweiter Bezug auf das Recht auf die Stadt lässt sich als utopische Vision der Stadtentwicklung zusammenfassen. Auch wenn sich die Forderungen nach einem Recht auf die Stadt zumeist in konkreten Auseinandersetzungen in umkämpften Räumen artikulieren, weisen sie doch regelmäßig über das aktuelle Konfliktfeld hinaus und sind als Metapher für eine grundsätzlich andere Stadt, ja eine andere Gesellschaft zu verstehen. Gerade weil Lefebvre mit seinen Thesen zur vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft der Stadt ihr räumliches Korsett genommen hat, sind Veränderungen in den Städten gar nicht anders denkbar als im Rahmen von grundsätzlichen gesellschaftlichen Verschiebungen des Kräftefeldes. Die Stadt als Arena polit-ökonomischer Verhältnisse zu verstehen, schließt baulich-technisch und stadtplanerisch begrenzte Lösungen der Ausgrenzung und Marginalisierung aus und verknüpft Perspektiven der Veränderungen mit Fragen der Macht, des Eigentums und der Verwertung.
Das Recht auf die Stadt steht dabei für eine Vision des Wandels, der die Umverteilung materieller, sozialer, politischer, kultureller und symbolischer Ressourcen umfasst und auf den Prinzipien der Demokratie, Gleichheit, Anerkennung von Differenz und Einbeziehung basiert. Auch Henri Lefebvre verstand das Recht auf die Stadt vor allem auch als Recht auf Mitgestaltung auf allen städtischen Ebenen im Sinne einer „urbanen Demokratie“. Was klingt wie ein Allgemeinplatz aus den Handbüchern der partizipativen Stadtplanung, ist aber im Verständnis vieler städtischer sozialer Bewegungen eine gegenhegemoniale Herausforderung für die neoliberalen Marktlogiken und die gängigen Muster der Legitimierung staatlichen Handelns.
In der Praxis sozialer Bewegungen wird das Recht auf die Stadt als Brückenkonzept zwischen den Forderungen sozialer und demokratischer Reformen innerhalb des existierenden Systems und Orientierungen an einer radikalen Transformation des Städtischen und der grundsätzlichen Infragestellung der bestehenden Machtverhältnisse genutzt. Das Recht auf die Stadt als utopische Vision und gegenhegemoniales Projekt kann in der Unübersichtlichkeit von kurz- und langfristigen Forderungen, Reformorientierungen und Revolutionsfantasien als Orientierungspunkt für strategische Ausrichtungen und Maßstab für die Erfolge verstanden werden.
Reformpolitischer Forderungskatalog. In einer dritten Interpretationsmöglichkeit wird das Recht auf die Stadt von internationalen Organisationen, linken Stadtregierungen aber auch Bewegungen als Sammelbegriff für eine Reihe von reformpolitischen Forderungen und Vorschlägen verstanden. Aus Lefebvres Text werden dabei das Recht auf Zentralität, das Recht auf Differenz und das Recht auf Mitbestimmung hervorgehoben und unter den jeweiligen historischen und lokalen Voraussetzungen für die eigenen Auseinandersetzungen übersetzt. Verstanden wird das Recht auf die Stadt in diesem Kontext vor allem als Recht auf den Nichtausschluss von den Qualitäten und Leistungen der urbanisierten Gesellschaft und somit als Forderung nach einer Umverteilung von materiellen Ressourcen und politischer Macht.
Das Recht auf die Stadt nimmt dabei die Gestalt eines abstrakten Prinzips und Anspruchs auf Beteiligung an der Gestaltung, Verwaltung und Nutzung konkreter Plätze, Gebäude und Nachbarschaften an. Die vielfachen Mobilisierungen für ein Recht auf Wohnen, das Recht auf den Zugang zu öffentlichen Räumen, das Bleiberecht und die Bewegungsfreiheit für MigrantInnen oder auch für die Akzeptanz der eigenen Lebensentwürfe stehen für ein solches Verständnis.
Zentraler Adressat der Forderungen sind vielfach die Stadtregierungen. Vor allem Kampagnen und Mobilisierungen, in deren Zentrum die Formalisierung und Anerkennung informeller und illegalisierter Formen der Alltagsorganisation, des Arbeitens und Wohnens stehen, richten sich notwendigerweise auch an die Strukturen der jeweiligen politisch-administrativen Systeme. Der oftmals als radikale Subjektivität vorgetragene Anti-Etatismus von Protestbewegungen in Westeuropa und Nordamerika erscheint im Kontext städtischer Konflikte im globalen Süden teilweise als Privileg von Mittelschichtmilieus, die sich trotz ihrer Verweigerungshaltung auf die weitgehende Gültigkeit von rechtsstaatlichen Prinzipien und grundlegende öffentliche Versorgungsleistungen verlassen können.
Mobilisierungen, die stärker von ökonomisch, kulturell und über die Staatsbürgerschaft politisch Ausgegrenzten getragen werden, sind in ihrer Haltung zum Lokalstaat oftmals von Pragmatismus geprägt. Das Beispiel der Tenants and Workers United (TWU) in Virgina zeigt, wie ein solcher reformpolitischer Radikalismus aussehen kann. (1) Auf der einen Seite werden Organisationsstrukturen und Programme entwickelt, die eine systemüberwindende und gegenhegemoniale Politik ermöglichen, zugleich verfolgt die Initiative mit dem Programm des munizipalen, d.h. kommunalen Sozialismus eine Reihe von realpolitischen und umsetzbaren Forderungen. Der scheinbare Widerspruch zwischen der Radikalität der Ziele und der praktischen Beschränkung auf das reformpolitisch Mögliche wird in dem pragmatischen Verständnis eines Rechts auf die Stadt insofern aufgehoben, als dass die lokalpolitischen Forderungen sich tatsächlich auf das lokalpolitisch Durchsetzbare beschränken, aber in einem größeren Kontext sozialer Auseinandersetzungen die Kräfteverhältnisse verschieben und Mobilisierungsspielräume erweitern.
Organisationsansatz. In einer vierten Perspektive kann das Recht auf die Stadt als ein spezifischer Organisationsansatz von städtischen sozialen Bewegungen angesehen werden, der insbesondere das gemeinsame Agieren verschiedener, ansonsten marginalisierter Mobilisierungen betont. Das von Lefebvre formulierte Recht auf Differenz im Sinne von Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven, Lebensentwürfen und Ausgrenzungen wird dabei zum Ausgangspunkt für die kollektive Artikulation verschiedener Forderungen und Bedürfnisse und einen gemeinsamen Diskussionsrahmen sehr unterschiedlicher Initiativen. Doch diese Anerkennung der Differenz folgt keiner sozialen Beliebigkeit.
Die in den USA entstandene Right to the City Alliance beispielsweise wird von AktivistInnen als Ansatz eines New Working Class Organizing angesehen. Gemeint sind damit all jene, die in den Produktionsprozessen der globalisierten Weltwirtschaft ausgebeutet werden. Im Vergleich zur traditionellen und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse beschreiben Jon Liss und David Staples diese neue Klasse als weiblicher, migrantischer, flexibler und in sich differenzierter. (1) Veränderte Produktionsabläufe, globale Wanderungsbewegungen und die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates haben prekäre und zum Teil informelle Arbeitsverhältnisse in den Bereichen der Fertigung, der sozialen Reproduktionsdienstleistungen und der Wissensökonomie (Cyber-Proletariat) hervorgebracht, deren Interessen von den traditionellen Gewerkschaftsorganisationen nicht oder nur unzureichend vertreten werden.
Die mit dem Recht auf die Stadt assoziierten Bündnisorientierungen wurden auch hierzulande aufgegriffen, um spektrenübergreifende Mobilisierungen zu stadtbezogenen Themen zu initiieren. In Städten wie Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main, Düsseldorf und Freiburg wurden in den letzten Jahren lokale Bündnisse und Vernetzungsstrukturen entwickelt, die mit und ohne Bezug auf das Recht auf die Stadt den Anspruch verfolgen, verschiedenen Initiativen, Themenschwerpunkten und Aktionsformen einen gemeinsamen Mobilisierungsrahmen zu geben.
Das 2009 entstandene Recht-auf-Stadt-Netzwerk in Hamburg hat mit seiner öffentlichen Präsenz, der relativen Kontinuität und einem breiten Spektrum von Aktionen zu verschiedenen Feldern der Stadtpolitik mittlerweile eine Vorbildfunktion für stadtpolitische Organisierungsversuche in anderen Städten erlangt. AktivistInnen aus Hamburg werden bundesweit zu Veranstaltungen eingeladen und sollen über das Hamburger Erfolgsmodell berichten. Mit dem im Juni 2011 in Hamburg stattfindenden Recht-auf-Stadt-Kongress ist ein zusätzlicher Schub für Nachahmungsbewegungen zu erwarten.
Wie das Recht-auf-Stadt-Netzwerk aus Hamburg zeigt, handelt es sich im Gegensatz zu vielen anderen sozialen Bewegungen hier nicht um eine Jugendbewegung. Der Großteil der Aktiven ist zwischen 30 und 60 Jahren alt. Neben der Orientierung auf konkrete Nachbarschaftskonflikte gelang es dem Netzwerk immer wieder, auch gesamtstädtische Fragen auf die Tagesordnung der öffentlichen Debatte zu setzen und meinungsbildende Medien gezielt für die eigenen Ziele zu nutzen.
Im internationalen Vergleich werden jedoch Unterschiede hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung des Protestspektrum deutlich. Trotz der Heterogenität der Bewegung ist ihre überwiegende Herkunft aus einem linksalternativen Mittelklassemilieu, das sich in den Szenestadtteilen von Hamburg konzentriert, nicht zu übersehen. Ob das mit dem Recht auf die Stadt verbundene Potenzial neuer stadtpolitischer Bündnisse der Marginalisierten und Ausgegrenzten freigesetzt werden kann, wird sich nicht nur in Hamburg erst in der Praxis der Bewegung zeigen.
Wie weiter mit dem Recht auf die Stadt?
Im globalen Kontext sind die Recht-auf-die-Stadt-Bewegungen eine Reaktion auf die Gewalt, die von städtischen Entwicklungen heute auf marginalisierte BewohnerInnen und NutzerInnen der Städte weltweit ausgeht. Die weltweiten Protestmobilisierungen spiegeln die wachsende politische, wirtschaftliche und demographische Bedeutung der Städte und zeigen, dass die andauernde Krise des Neoliberalismus auch eine Chance für eine Neuerfindung und Wiederaneignung der Stadt beinhalten kann.
Eine Gemeinsamkeit dieser Bewegungen ist, dass sie neue städtische Orte herstellen, die sich nahe am Alltag der StadtbewohnerInnen befinden und der neoliberalen Verwertungslogik der Stadt zum Teil entzogen sind. Solche Orte der Wiederaneignung sind sozial weniger selektiv als die autonomen Räume der 1980er Jahre und geben auch den Teilen der Bündnisse und Koalitionen die Möglichkeit zur Formulierung eigener Gegenentwürfe, die es nicht gewohnt sind, sich in politischen Debatten zu artikulieren. Wie beispielsweise die Kämpfe von SexarbeiterInnen in Madrid oder von Illegalisierten in europäischen Städten gegen die Marginalisierung zeigen, werden Solidarität und Bündnisse gegen die Ausgrenzung werden von Momente der Integration und der Anerkennung von Differenzen getragen und bringen sie hervor. Das Recht auf die Stadt ist keine abstrakte Utopie, sondern vor allem ein Anspruch an die Bewegungen selbst.
Übergreifende Bündnisse, die verschiedene Teile der von der neoliberalen Stadt Betroffene zusammenbringen, sind ein zentraler Erfolgsfaktor für die Forderung nach dem Recht auf die Stadt. Doch solche Koalitionen basieren auf der Empathie der oberflächlich Integrierten mit denen, die ihrer elementarsten Rechte beraubt sind. Es braucht Bündnisse zwischen denen, die die Welt wissenschaftlich oder künstlerisch repräsentieren auf der einen Seite, mit den sowohl kulturell als auch materiell Ausgeschlossenen und ihrer eigenen Repräsentation beraubten Menschen auf der anderen Seite. Ein solcher Austausch stärkt die sozialen Bewegungen und verhindert die Ausbeutung der einen durch die anderen. Es bedarf auch der Hinterfragung, wessen legitime Forderung nach dem Recht auf die Stadt nicht vertreten ist.
Diese Frage der Empathie und der Breite der Bündnisse stellt sich auch im Hinblick auf die Beziehungen der sozialen Bewegungen in den Städten des globalen Nordens mit denen des Südens. Das Recht auf die Stadt trägt dabei das Potenzial eines neuen Internationalismus, in dem die sozialen Bewegungen des Nordens von denen des Südens – etwa von den Aktionsformen der Obdachlosenbewegung MTST in Brasilien – lernen können. Die Stärke dieser Bewegungen basiert auf einer räumlichen und sozialen Unmittelbarkeit, die in den Nachbarschaftsorganisierungen ebenso zum Ausdruck kommt wie in der sozialen Notwendigkeit der Auseinandersetzung. Das Recht auf die Stadt ist dort kein angesagter Modebegriff, sondern der Kampf von denen, die es nicht haben. Auch in dieser Hinsicht stehen die städtischen Protestbewegungen, die sich hierzulande das Recht auf die Stadt auf ihre Fahnen geschrieben haben vor großen Herausforderungen.
Dirk Gebhardt/Andrej Holm
Der Beitrag ist die gekürzte und redigierte Einleitung des von den Autoren herausgegebenen Sammelbandes: Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. VSA Verlag, Hamburg 2011.
Anmerkung:
1) Siehe hierzu den entsprechenden Beitrag in: Dirk Gebhardt/Andrej Holm: Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. Hamburg 2011
Der Beitrag erschien im ak (Analyse & Kritik) 561 (vom 20.05.2011)