Der russiche Zar Nikolaus II. schreibt seinem deutschen Cousin Wilhelm II. besorgte Telegramme mit frommen Friedenswünschen
Da sind sie noch Freunde: Für den Fotografen tauschen der deutsche Kaiser Wilhelm II. und der russische Zar Nikolaus sogar die Uniformen, aber ein wenig steif ist die Beziehung zwischen dem schon immer. Nikolaus ist von Wilhelms impulsiver Geschwätzigkeit genervt und Wilhelm hält Nikolaus in dessen Prunksucht für zu einfach gestrickt. Dabei sind die beiden Cousins. Die englische Königin Victoria ist ihre gemeinsame Großmutter. Diese beiden also, die sich seit ihrer Kindheit kennen, stehen im Juli 1914 an der Spitze der beiden stärksten Militärmächte der Welt. Sie könnten die Krise entschärfen, die sich mittlerweile bedrohlich zugespitzt hat. Zwar wird sowohl in Berlin als auch in Sankt Petersburg heiter an den Herrschern vorbeiregiert - aber ohne deren Unterschriften marschieren weder Russland noch in Deutschland Soldaten. In der Tat: Heute vor 100 Jahren greifen die kaiserlichen Cousins ein letztes Mal ins politische Alltagsgeschäft ein: Sie schreiben sich mit freundlicher Unterstützung von diplomatischen Ghostwritern Telegramme und versuchen die missliche Angelegenheit unter Monarchen aus der Welt zu schaffen.
Nikolaus II. wird 1868 geboren in die russische Zarenfamilie Romanow geboren. Die kaiserlichen Ausbilder tun sich schwer mit dem bedeutenden Zögling. Nikolaus ist ein lausiger Schüler und tut sich generell schwer mit dem Lernen. Für die Staatskunst hat er kaum Interesse. Lieber tobt er sich beim Tennis aus und schwelt im sagenumwobenen Luxus der Romanows - Peter Carl Fabergé (der mit den goldenen Eiern) ist der Hofgoldschmied der russischen Zaren. Zum Herrscher über das russische Imperium steigt Nikolaus 1894 auf, als sein Vater Alexander III. stirbt. Obwohl Nikolaus mit dem politischen Kleinklein des Alltags wenig zu schaffen haben will, hat er ein gutes Gespür für die Gefahr, die ein europäischer Krieg für sein Haus mit sich bringen könnte. Seinem Außenminister Sasonow gesteht er die Angst vor einer Revolution ein. Auch deshalb wendet sich der Zar an Wilhelm.
"Dear Willy", beginnt Nikolaus sein Schreiben und verwendet den vertrauten Kosenamen aus Kindertagen. Dann erklärt er ihm, wie schändlich der österreichische Vergeltungsschlag aus russischer Sicht ist ist. Um einen europäischen Krieg zu vermeiden, "bitte ich Dich im Namen unserer langjährigen Freundschaft, alles, was Dir möglich ist, zu unternehmen, um Deine Verbündeten davon abzuhalten, zu weit zu gehen." Fast zeitgleich erklären Willy und seine Berater "dear Nicky", ihre Wiener Bundesgenossen zu direkten Verhandlungen mit Sankt Petersburg zu bewegen. Soweit, so einig. Aber die Fakten sprechen eine andere Sprache. Russland mobilisiert heimlich und der deutsche Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg hintertreibt eine diplomatische Lösung. Etwas strenger im Ton verlangt Nikolaus von Wilhelm Aufklärung, schließt aber geradezu pathetisch mit "In Liebe, Dein Nicky". Willy kontert geschickt. Nein, Wiens Anliegen sei nicht schändlich; aber ja, er werde sich für direkte Verhandlungen stark machen. Allerdings seien die russischen Kriegsvorbereitungen nicht gerade hilfreich. Das trifft Nicky ins Mark. Eilends widerruft er den gerade erteilen Befehl zur Generalmobilmachung. Dann beichtet er Willy, dass die Kriegsvorbereitungen schon seit fünf Tagen laufen. Das ist nicht unbedingt die beste Morgenlektüre für den Deutschen Kaiser, der sich von seinem Cousin betrogen fühlt. Wiederum eine einer berüchtigten Randnotizen auf dem Telegramm beendet die hoffnungsfrohe Korrespondenz der beiden Kaiser: "Ich betrachte meine Vermittlung als gescheitert, da der Zar, ohne abzuwarten, ob sie Wirkung zeigt, und ohne einen Hinweis für mich, mobilgemacht hat..." Das wiederum lässt Nikolaus II. aufseufzen - und nun doch mobilmachen. Russland ist die erste europäische Großmacht, die die Generalmobilmachung anordnet.
Für beide Cousins ist der Kriegsausbruch das Anfang vom Ende. Wilhelm verliert 1918 seine Herrschaft (übermorgen im Eulengezwitscher), Nikolaus sogar sein Leben. Die bolschewistische Revolution stürzt die Romanows 1917 - ein Jahr später werden der Zar und seine ganze Familie ermordert.