De dicto

"Die meisten deutschen Nationalspieler bewegten ihre Lippen nicht."- Franz Josef Wagner, BILD-Zeitung vom 1. Juli 2012 -
"Wer für sein Land nicht singt, tut sich schwer mit dem Siegen."- Peter Hahne, BILD-Zeitung vom 30. Juni 2012 -
"Unsere Hymne ist ein Bekenntnis zu unserem Land, unserer Demokratie, unserer Geschichte. Deshalb gehört sie auch endlich im Grundgesetz verankert.​"- Hugo Müller-Vogg, BILD-Zeitung vom 1. Juli 2012 -

Zum Gesagten sei angemerkt: Die oben zitierten Fußball-Experten aus dem dieckmännischen Stall wissen ganz genau, warum die DFB-Auswahl gegen jene Italiens verlor. Nicht an mangelnder Laufbereitschaft lag es etwa, sondern an mangelnder Singbereitschaft - das ist nicht die These eines originell sein wollenden Sportjournalisten alleine, sondern dieser Tage allgemeinverbindliche Agenda im Springer-Haus. Das Spiel wurde nicht etwa im Spiel, sondern letztlich schon davor entschieden. Die Italiener hätten so leidenschaftlich gesungen; gesungen von der Bereitschaft in den Tode zu gehen, wie es das Fratelli d'Italia in seinem Refrain in den Mund legt - und mancher DFB-Kicker habe nicht mal die Lippen bewegt. Denn nur wer leidenschaftlich schmettert, der überträgt diese Leidenschaft auf den Platz, wissen die Experten aus dem Springer-Haus. Die spanische Auswahl müsste demnach schwer im Nachteil sein, denn die spanische Hymne kennt keinen Text. Leidenschaftlich gespielt hat die Mannschaft dennoch; und das Turnier souverän und ästhetisch gewonnen - und das ganz ohne vorspielerischen Gesang.

Man hätte viel Analysiertes erwarten können nach der Niederlage der Nationalelf. Es gab ja durchaus Diskussionswürdiges - weniger Löws personelle Entscheidungen vor dem Spiel. Der deutsche Fußball und sein Journalismus sind immer noch zu personell eingestellt. Taktik wird da unterbewertet - aber genau hier hätte man ansetzen können. Über viel wurde geschimpft, die richtigen Fragen stellte man allerdings nicht. Beispielsweise: Warum entstand im Mittelfeld nie Überzahl? Mit diesem technisch etwas aufpolierten Kick and Rush, den die DFB-Elf zuweilen spielt, setzt man sich gegen Mannschaften, die den kontrollierten Ballbesitz pflegen, nicht durch. Wer den Ball nicht besitzen will, der besitzt auch nicht jenes Spielgerät, über das man zum Erfolg kommt. Und ohne immer wieder geschaffene Überzahlsituationen im Mittelfeld gerät man unter Zugzwang, verrennt sich in der Mitte des Platzes. Vier Verteidiger lassen sich ja durchaus vertreten, wenn man sie so agieren läßt, wie das in der spanischen selección der Fall ist. Die beiden Außenverteidiger fungieren dort nicht nur als Defensivkräfte, sondern schalten sich stets in das Angriffspiel mit ein, spielen quasi als hängende Mittelfeldspieler. Außer Lahm gelingt das den deutschen Abwehrrecken aber kaum - sie sind zu starr positioniert, sind kaum Angriffsoptionen. Fragen stellt der Sportjournalismus durchaus - nur profund sind die nicht. Kurzum, man hätte über eine statische, teils auch zu konservative Spielweise des DFB sprechen können - nicht nur gegen Italien, sondern vorher schon gegen Portugal und Dänemark. Die Niederlage allerdings auf den Gesang vor dem Spiel festzulegen, das ist so ungeheuerlich doof, dass man kaum glauben mag, dass diese These erwachsene Männer in aller Ernsthaftigkeit vertreten können.
Fußball ist kein romantisches Sturm und Drang. Wer das glaubt - und die drei "Experten" glauben das wohl! -, der hat sich nie profunder mit dem Spiel befasst. Fußball ist kein verinnerlichter Romantizismus; mit der richtigen patriotischen Einstellung gewinnt man vielleicht die Herzen rührseliger Massen in zu engen Fantrikots - nicht aber Fußballspiele. Wäre das so einfach, so wäre Fußball jenes Spiel, das den größten Fanatikern Pokale einbrächte. Die Debatte um das Mitsingen der Hymne unterstreicht nur, dass es heute keinerlei Ahnung mehr bedarf, um in Zeiten großer Turniere wichtigtuerische Kommentare abzusondern. Jeder kann bundestrainieren, jeder kann seinen Stuss als Erkenntnis abdrücken. Wagner, Hahne und Müller-Vogg sind nicht mehr, als die gröhlende Ahnungslosigkeit und die gellende Partylaunenhaftigkeit des Feuilletons. Sie kreischen ihr Unwissen nicht beim public viewing hinaus, sie schreiben es nieder und verleihen nebenher dem Fußball auch noch halbesoterische Züge, wenn sie darüber salbadern, dass es die singende Leidenschaft ist, die den Sieg hokuspokisiert. Der DFB brauche keine modernere Spielweise, er brauche nur beseeltere Sangesnaturen - hat da die Casting-Republik und ihr Wahn, jeder könne eine Bardenkarriere starten, wenn er nur gerne singt, abgefärbt?
Solche Leute schätzen den Fußball nicht, sie machen ihn lächerlich und diskreditieren und trivialisieren ihn. Man sollte Fußballer nicht zum Singen der Hymne verpflichten, sondern manchem dieser Experten das Singen verbieten...


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