De dicto

"Wer in Deutschland von einem Gen der Juden spricht, dem ist nicht mehr zu helfen. [...]
Das hätte Sarrazin wissen müssen. Mit seinen Ausflügen in die Genetik machte er sich angreifbar."

- Bertholt Kohler, Frankfurt Allgemeine vom 30. August 2010 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Zwei Sätze, die die gesamte Misere der "Affäre Sarrazin" blanklegen. Unverblümter kann man es kaum formulieren. Der Diskurs, der sich nämlich an Intelligenz oder Dummheit orientiert, gerät nur in Schieflage, das heißt: außer Kontrolle, weil sich der Hauptprotagonist dumm, nicht besonders intelligent verhalten hat - jedoch nicht, weil seine Aussagen haarsträubend rassistisch und eugenisch sind. Und wenn er schon von Genen spricht, so ist man sich bei den Meinungsmachern einig, dann bitte nicht von jüdischen Genen. Die Gene der Dummen sind allerdings Freiwild - da darf eine vermeintliche Dummgenetik erfunden und weniger kritisiert betrieben werden.

Was die bürgerliche Mitte Sarrazin nun vorwirft ist nicht, dass er gegen Ausländer und Arbeitslose drischt, dass er ihnen süffisant unterbreitet, sterilisiert wären sie erträglicher für die Allgemeinheit: was sie ihm vorwerfen ist, dass er sich nicht wissenschaftlich genug an die Sache herangewagt hat. Deshalb ist er jetzt dummerweise angreifbar. Wenn man schon xenophobes Gedankengut verbreitet, dann doch wenigstens wissenschaftlich abgesichert! Denn dann kann man seine sozialeugenischen Affekte, diese Mischung aus Fremdenhass und protestantischem Arbeitsethos, aus "Deutschland den Deutschen!"-Rufen und "Wer nicht arbeitet, soll nicht essen!"-Parolen, hinter der hilfreichen Fassade der Wissenschaftlichkeit verstecken. Dann könnten die Stimmen aus dem bürgerlichen Lager rufen: Nicht wir denken so unmenschlich, es ist die wissenschaftliche Erkenntnis, die uns das Unmenschliche nahelegt! Wir werten nur aus - wir bewerten nicht. Letzteres macht die wissenschaftliche Objektivität für uns, damit wir alle subjektiv schuldlos bleiben.
Und genau daran hakt es bei Sarrazins Auftritt. Er hat irgendwo Aufgeschnapptes in einem Buch verwurstet, hat eine Genetik bemüht, die auf dem Wissensstand von 1920 oder 1930 beruht - einem Wissensstand, der damals schon von fortschrittlichen Biologen angezweifelt wurde -, eine Genetik, die fast schon wieder überholt war, als der berühmte Eugeniker und Vordenker der Euthanasie, Auguste Forel, seinen Lebensabend bestritt. Wenn man seine Überspanntheit, sein fiebriges Kleinbürgertum schon ausleben will, so hat dies unantastbar, anhand neuester Wissenschaftlichkeit zu erfolgen - nicht wie Sarrazin es tut, mittels gestriger Lehren. Hätte er Xenophobie und Klassismus nur zeitgemäß präsentiert, modern untermauert und durch aktuelle Studien gestützt: dann wären die, die nun laut und scheinheilig gegen Sarrazins Gestrigkeit anlaufen, auch öffentliche Bewunderer - doch so müssen sie seinen Schneid im stillen Kämmerlein bestaunen.
Ach Thilo, schreiben sie nun zwischen ihren Zeilen... ach Thilo, das wäre ein großartige Chance gewesen, unsere kleingeistige Großmannssucht, unseren großspurigen Kleinbürgerethos ungeniert zu publizieren - hättest du dich nur geschickter angestellt, du Ewiggestriger. Gesucht wird daher weiterhin ein schnittiger Vorreiter, der das dumpfe Lebensgefühl der bürgerlichen Mitte wissenschaftlich oder philosophisch unterstreicht - ohne genetische Positionen, die schon zu Großmamas Zeiten überholt waren...

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