De auditu

 

Kürzlich las und lauschte man von einem Mann in Indien, der zum Tode verurteilt wurde, weil er einen Bombenanschlag verübte, bei dem Menschen zu Tode kamen. Der Orginalton lautete: ... weil er unschuldige Menschen in den Tod riss. Oder andernorts: ... weil er unschuldige Menschen tötete. Der Verurteilte war ein Attentäter der Anschläge von Mumbai, die im Jahr 2008 laut Angaben indischer Behörden 174 Menschen das Leben kosteten. Ein Überlebender der Anschläge läßt sich im selben Wortlaut zitieren: "Wir senden eine klare Botschaft an alle Terroristen, dass sie nicht davonkommen werden, wenn sie in Indien unschuldige Menschen töten." Zynisch könnte man nun fragen, ob das Töten von Menschen in Indien kein Problem darstelle, solange man keine unschuldigen Menschen trifft.

Die Floskel von den unschuldigen Menschen, die den Tod fanden, ist ja nicht nur auf Mumbai beschränkt. Man hört sie oft. Sie ist gebräuchlich und eine Standardformulierung, die eine Form der Empörungshaltung trotz Wahrung der üblichen Contenance darstellt. Gleichzeitig ist sie aber irrational und schafft zwischen potenziellen Opfern einen moralischen Riss. Und nicht nur dort setzt sie Moral ein, sondern auch beim Täter, dem man quasi eine Art Option gewährt, sich zwischen unschuldigen und schuldigen Opfern entscheiden zu können. Die Unschuld ist ja eine ethische Begrifflichkeit, meist nicht mehr als eine offene Frage, ein unerreichbarer Zustand. Der Katholik ist es beispielsweise nie, er trägt die Erbschuld im Katechismus mit sich herum. Was so kirchenspießig klingt, hat aber durchaus eine philosophische Wurzel. Ohne Schuld ist niemand, egal wie bemüht er auch ist, Schuld zu vermeiden. Das wirft eine Frage auf, die in der gebräuchlichen Floskel unschuldiger Menschen, die zu Opfer wurden, relevant ist: Welche Schuld ist gemeint, wenn man die Unschuld betont? Anders gefragt: Die Unschuld von was ist da gegenständlich? Und was hat sie mit der Zufälligkeit der Brutalität zu tun, der man zum Opfer fiel?
Käme bei einem fiktiven Doppelmord heraus, dass die beiden fiktiven Todesopfer nicht unschuldig waren, sondern vorher ein Verbrechen begangen haben, das jetzt durch ihren Tod Aufklärung fand, lindert das die Schuld des Mörders? Und wie schwer müsste das Verbrechen der Opfer sein, um den Täter reinzuwaschen? Was aber, wenn nur ein Mordopfer schuldig war, dafür aber vielleicht ein sehr schweres Vergehen auf seinen Schultern trug? Wiegt das schuldige Opfer das unschuldige auf? Die Verwendung des Floskel, es wurden unschuldige Menschen getötet, ist unangebracht, denn sie wird in diesem Zusammenhang gar nicht gebraucht. Ein Mord ist nach gängigen Rechtsverständnis auch dann ein Mord, wenn man jemanden tötet, der schwerste Schuld auf sich geladen hatte. Der Mord an einen Mörder ist Mord und keine gerechte Sache. Und genau das suggeriert das "unschuldige Opfer". Die Frage nach Schuld oder Unschuld eines Opfers ist irrelevant, sie wird gerichtlich nur dann wesentlich, wenn der Mörder in einer direkten Beziehung zum Opfer stand und man die persönlichen Beweggründe, die aus dieser Zwischenmenschlichkeit erwuchsen, ins Strafmaß binden möchte. Aber auch im Rahmen einer Berichterstattung zu einer Beziehungstat, ist die Floskel "unschuldiges Opfer" unzureichend, denn dann müsste man fragen, welche Schuld angemessen gewesen wäre, um jemanden mit allgemeiner Anerkennung töten zu dürfen.
Dem sprachlich als unschuldig erwähnten Opfer wohnt die Antithese inne. Es gibt demnach Mord, der qua Schuld des Opfers berechtigt zu sein scheint. Ein stilles Plädoyer für die Todesstrafe? So unscheibar die Floskel wirkt, so gängig sie ist und so schnell wieder vergessen, weil wir an sie gewohnt sind: Sie ist eine Wortkombination reaktionärer Sprache. Das heißt nicht, dass alle, die die Floskel nutzen, Reaktionäre sind - das heißt eher, dass sich Sprache einschleift und Reaktionen zeitigt, die man vielleicht gar nicht beabsichtigt. Wer laut "unschuldiges Opfer" sagt, meint still das Gegenteil. Und irgendwann ist das ganz natürlich und normal und hinterfragt wird es nicht mehr. So bereitet Sprache Taten vor.


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