De auditu

Es ist nicht mehr hoffähig, von Gut oder Schlecht zu sprechen. Man wägt ab und durchleuchtet auf Nutzen, auf Kosten sowieso und fällt dann ein Urteil im Stile des Einerseitsandererseits. Es sei gut oder es sei schlecht, vernimmt man dabei spärlich. Aus der Mode! Selbst der Dienst am Nächsten wird nicht als gut begriffen, man tut nichts Gutes, man übt sich in Menschlichkeit. Die Menschlichkeit, wie sie heute sprachlich gebraucht wird, beinhaltet Gutes.

Menschlichkeit ist Güte, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Empathie, Liebe. Wir erkennen in der Menschlichkeit Vorzüge. Wenn wir jemanden auffordern, er solle sich bitte etwas menschlicher verhalten, dann meinen wir, er sollte zartfühlender sein. So wie der Mensch eigentlich ist: und zwar gut. Das geht so weit, dass soziale Strukturen im Tierreich zur Menschlichkeit verklärt werden. Wie menschlich die Meerkatzen im Umgang miteinander doch sind, weil sie ihre Artgenossen vor Gefahren warnen! Die Begriffsverwendung ist eine Verknappung, sie tilgt die traurige Erkenntnis vieler Jahrhunderte, dass Menschlichkeit auch Gnadenlosigkeit, Egoismus, Gleichgültigkeit, Gewaltbereitschaft und Hass ist. Auch diese Eigenschaften entsprechen dem Menschen, sind menschlicher (allzumenschlicher) Abkunft, machen seine Menschlichkeit aus. Der Mensch, er ist in alle Richtungen hin denkbar. Menschlichkeit ist lieben und hassen, ist karitatives Engagement und Atombombe, ist Zivilcourage und Mord. Es ist menschlich, gut zu sein - es ist menschlich, schlecht zu sein.

Im Alltag gebrauchen wir die Menschlichkeit jedoch lediglich, um die guten Seiten am Menschen aufzudonnern. Es ist, als wollte man damit dieses eigentliche, ja dieses eigentlichste Wesen des Menschen sprachlich adeln. Die menschliche Schlechtigkeit erhält das Attribut unmenschlich, gerade so, als sei der Mensch nicht schlecht, als könne nur einer, der nicht Mensch sei, dorthin tendieren. Die Forderung nach einer menschlicheren Gesellschaft nimmt somit besorgliche Züge an. Denn eine Gesellschaft ist auch menschlich, wenn sie auf Gier baut, auf egoistische Subjekte oder gar auf Gewalt. Sie wäre es freilich auch, wenn sie auf Ausgleich bedacht wäre, friedlich und altruistisch. Mehr Menschlichkeit zu erbitten, ist somit eine Jonglage mit sich aufhebenden Positionen. Menschlichkeit ist schwammig, undefinierbar, weil das Wesen des Menschen undefinierbar ist, weil es den Menschen an sich nicht gibt.

Progressiver Geist sollte weniger von Menschlichkeit fabulieren. Es ist nicht alles gut was menschelt. Er sollte den Mut haben, sich der etwas vermotteten, aber doch weitgehend klareren Begrifflichkeiten wie Gut und Schlecht zu bedienen, sich also an die Ethik ranmachen. Menschlichkeit ist Kooperation wie Kriegsrecht, paritätisches Sozialwesen wie Rücksichtslosigkeit gegenüber Kranken, Frauenhäuser wie beschnittene Kitzler, zärtlicher Liebesakt wie Vergewaltigung. Kurz, wer mit der Menschlichkeit ins Feld zieht, zieht mit einem undefinierbaren, weil zu breit gefächerten Spektrum ins Getümmel.


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