Ich träume mich weit weg mit diesem Roman. Zu Caitlin nach Nordamerika, in die dunklen sparsam beleuchteten Gänge des Großaquariums und zu den faszinierenden stummen Wesen hinter Glas, die dort ruhig und gelassen ihre Bahn ziehen. Bunt schillernd, urzeitlich und bizarr.
Caitlin ist ein zwölfjähriges Mädchen, das all seine Freizeit im Aquarium in Seattle verbringt. Hier fühlt sie sich wie in einem U-Boot in ungeheurer Tiefe. Wenn sie dann die faszinierende Unterwasserwelt verlässt, betritt sie die reale Welt der grau-matschigen Großstadt. Dort wartet sie auf ihre Mutter, die in ihrem Thunderbird selten pünktlich ist. Der kindliche Traum von einer Zukunft weit weg aus diesem Leben verwundert deshalb wenig:
Ich würde später mal Ichtyologin werden. Ich würde in Australien leben oder Indonesien oder Belize oder am Roten Meer. Und fast den ganzen Tag in diesem warmen Wasser tauchen. Ein Fischbecken, das sich Tausende von Meilen erstreckte. Im Aquarium kamen wir ja nicht zu ihnen (S. 14).
Caitlin ist außerdem ganz sicher, dass sie niemals so werden will wie ihre Mutter, Arbeiterin im Containerhafen, in braunem Carhartt-Overall, Flanellhemd und schweren Schuhen. Der Umgang zwischen Mutter und Tochter ist rau, aber herzlich. Eines spürt der Leser aber ziemlich schnell. Dass Caitlin verdammt einsam ist. Dann taucht Steve auf, der neue Liebhaber der Mutter. Das ist okay für Caitlin, doch kann auch er weder Vater noch Freund ersetzen. Und als Caitlin eine Freundschaft im Großaquarium beginnt, ist das total selbstverständlich, auch wenn der neue Freund ein älterer Herr ist. Beide teilen das gleiche Interesse: die bizarre stumme Unterwasserwelt. Gemeinsam spähen sie nach dem Bärtigen Wespenfisch oder dem Geisterpfeifenfisch – exotische Wesen, ganz zart gezeichnet von Illustrator Chris Russell und in wunderschönen schwarz-weißen Bildern einem jeden Kapitel vorangestellt. Einer solchen Zeichnung folgt dann meist die Geschichte:
In diesem Nichts hing wie ein Sternbild, ungeheuerlich, der Geisterpfeifenfisch. Wie ein Blatt, das Sterne gebiert, flüsterte ich, als könnte jeder Laut die Fische verscheuchen. Ja, flüsterte der alte Mann zurück. Ganz genau. Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Manchmal fasse ich nicht, dass du erst zwölf bist. Du solltest Ichtyologin werden … Er ist mein Lieblingsfisch, sagte ich, noch immer flüsternd … Also, jetzt ist er auch mein Lieblingsfisch … (S. 36).
Endlich ist da jemand, der Caitlin versteht, der ihr zuhört und sie respektiert! Der beruhigenden Stille dieser Unterwasserwelt und dem freundschaftlichem Verhältnis der beiden setzt David Vann eine ewig wütende und unzufriedene Mutter entgegen. Ihr Leben ist hart, freudlos, entbehrungsreich. Und das war es irgendwie schon immer. Verlassen vom eigenen Vater, musste sie als Teenager die sterbende Mutter pflegen. Eine unfassbare Wut hat sich in all den Jahren in ihr angestaut. Tonnen von Wut, die im Verlauf der Story endlich frei gelassen werden, denn … der alte Mann ist der zurückgekehrte Vater, er ist Caitlins Grandpa! Vann macht etwas ganz Besonderes. Er lässt den Leser ganz genau spüren, was in Caitlins Mutter vorgeht, doch bevor die Story ins Drama zu kippen droht, nimmt er uns mit ins Aquarium. Stumme Fische kontra Wutanfälle der Mutter:
© Stephan Masuck
Ich war allein in diesem dunklen schmalen Gang, verlor den Boden, rollte mich auf der Bank ein und betrachtete die Quallen über mir. Lichtringe, zum Leben erweckte Monde. Mein Herz fühlte sich an wie aus Stein, dunkel und hart, aber die Quallen waren aus etwas Ruhigerem gemacht, Beruhigendem. Langsames Treiben, endlos, vor so langer Zeit begonnen. Sie waren schön … (S. 63).
Für Caitlin beginnt eine harte Zeit, denn die Mutter will ihren neu gewonnen Freund und – wie sie nun weiß – Grandpa mit aller Macht aus dem Familienleben heraus katapultieren. Nach nichts aber sehnt Caitlin sich mehr, als nach einer intakten harmonischen Familie. Und da ist also jemand, der all das anbietet, der außerdem um Vergebung bittet, alle Schuld der Vergangenheit auf sich nimmt, der Geld und Sicherheit verspricht … und es soll nicht sein?! Caitlin hat das Gefühl, dass es im echten Leben nicht anders zugehen würde als im Meer – wo unerwartet jederzeit ein Raubfisch um die Ecke kommen kann. Beharrlich kämpft sie an der Seite ihres neuen Freundes. Eine erschütternd ehrliche, unglaublich warmherzige Geschichte mit einer tapferen kleinen Heldin.
Weitere Rezensionen bei buchrevier, literaturblog günter keil und literaturleucht
David Vann. Aquarium. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. Illustrationen von Chris Russell. Suhrkamp Verlag. Berlin 2016. 283 Seiten. 22,95 €