Vom Cover des Romans schaut sie mich an: Charlotte Salomon. Im April 1917 in Berlin Charlottenburg in der Wielandstrasse 15 geboren, wurde ihr Leben 1943 viel zu früh beendet. Da war sie 26 Jahre alt.
Charlotte war eine große Malerin. Ihr avantgardistischer Stil erinnert an die Gemälde bedeutender Künstler, wie Vincent van Gogh, Marc Chagall, Henry Matisse und Paula Modersohn-Becker.
Wie nähert man sich einem solchen Leben? Der französische Autor Foenkinos verzweifelt fast:
Dann fing ich an, mir Notizen zu machen. Notizen über Notizen, jahrelang …
Ich saß immer da und wollte dieses Buch schreiben.
Aber wie?
Durfte ich selbst darin vorkommen?
Konnte ich aus Charlottes Geschichte einen Roman machen?
Welche Form sollte das Ganze annehmen?
Ich schrieb, löschte, kapitulierte.
Ich brachte keine zwei Zeilen zu Papier.
Nach jedem Satz geriet ich ins Stocken.
Es ging einfach nicht weiter.
Ich verspürte beständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen.
Um durchatmen zu können.
Irgendwann begriff ich, dass ich das Buch genau so schreiben musste (S. 73/74).
Mit genau so meint Foenkinos: nach jedem Satz innehalten. Punkt setzen. Satz für Satz und Zeile für Zeile. Die eigene Stimme mit in den Roman einbauen, aus dem Off sprechen – warum nicht? Eine spannende Form ergibt sich daraus und ein ganz eigenwilliges Textbild außerdem.
“Liest du ein Poem?”, fragt mich eine Freundin. “Nein, einen Roman.”
Und was für einen! Ist man erstmal gewöhnt an diese Art des Lesens, kann man sich kaum lösen von der Geschichte. Es ist tatsächlich, als lese man ein Poem. Gemeinsam mit dem Autor kann ich aber auch innehalten, träumen, Lesepausen einlegen, um dem Fluss der Geschichte dann schnell wieder zu folgen.
Und dann fahre ich selbst in die Wielandstrasse. Auf Charlottes Spuren. Sie muss ein wunderbarer Mensch gewesen sein. Eine Frau, die gelebt hat, um zu malen. Melodien in ihrem Kopf werden zu Bildern … Ich schließe die Augen, stelle mir die 30er Jahre vor. Blende alles aus und frage mich, was hat Charlotte gesehen, wenn sie aus dem Fenster ihres Hauses geschaut hat? Dasselbe Straßenpflaster? Die Häuserfassade gegenüber? Hat sie das fallende Herbstlaub beobachtet? Was hat sie gehört und gefühlt? Wo waren ihre Gedanken, wenn sie malte? War sie tief versunken in ihre Bilder oder schnell abgelenkt vom Berliner Leben da draußen?
Charlotte hat sich ganz dieser Sache verschrieben.
Sie folgt einer inneren Notwendigkeit.
Sie malt nicht nur, sie lebt für nichts anderes, als für das, was sie malt …
Das macht sie ganz trunken.
Sie weiß jetzt, wohin ihr Weg führt (S. 96).
Kraft strahlt sie aus. Einen geheimnisvollen Zauber. Unterstützt wird dieser starke Glaube an die eigene Kunst durch den Vater Alfred. Er ist es, der 1939 beschließt, dass Charlotte dringend nach Frankreich zu den Großeltern gehen muss. Berlin ist für jüdische Menschen zu gefährlich geworden. Sein Abschiedsgruß ist kein Ich liebe dich. Was der Vater in Charlottes Ohr flüstert, das ist viel größer und bedeutender … sie wird diese Worte mit nach Frankreich nehmen:
Einen Satz, an den sie immer denken wird.
An dem sie sich festhält.
Mögest du nie vergessen, dass ich an dich glaube (S. 137).
Stolpersteine in der Wielandstrasse 15 für Charlotte, Albert und Paula
Dieser Satz wird später auch auftauchen in einem ihrer Bilder aus dem autobiografischen Werk Leben? Oder Theater?, welche den Krieg überlebt haben. Sie befinden sich heute im Joods Historisch Museum in Amsterdam. Kurz vor ihrer Deportation hatte Charlotte sie einem Vertrauten übergeben. Sie selbst überlebt den Krieg nicht, sie wird in Auschwitz ermordet – im fünften Monat schwanger.
Doch die Flucht aus Berlin hatte ihr eine kurze Phase intensiven Malerglücks geschenkt. Über Paris und Nizza geht es nach Villefranche zu den Großeltern ans Mittelmeer. Den Satz ihres Vaters trägt sie tief in sich. Sie malt weiter, wie besessen. In ihr ist so viel Schönheit. Doch fühlt sie sich schuldig, hier zu sein. Wie kann sie ein Glück genießen, das ihrem geliebten Vater Albert und seiner Frau Paula nicht sicher ist? So spiegeln sich in ihrem Werk auch Trauer, Schmerz und Angst. Charlotte malt auch, um nicht verrückt zu werden.
Gedenktafel für Charlotte Salomon. Wielandstrasse 15
Vier Jahre lang hat David Foenkinos sich mit Charlotte Salomon beschäftigt. Sie ist ihm in dieser Zeit so vertraut geworden, wie eine Schwester. In einem Interview (Lesung im Haus der Deutschen Festspiele, 13.09.2015) sagt er, sie sei “die große Liebe seines Lebens“ und er selbst fühle sich, indem er ihre Geschichte erzähle, als “Botschafter der schönen, melodischen deutschen Sprache”. In Frankreich wurde Charlotte 2014 mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet.
Ich bin dem Autor zutiefst dankbar, dass er nicht aufgegeben hat, dieses Buch zu schreiben. Dass er Charlotte mit diesem berührendem Roman ein wundervolles Zeichen der Erinnerung gesetzt hat. Es war beglückend und inspirierend, Charlotte zu lesen. Spreche ich mit Freunden über diesen Roman, dann erfahre ich von ähnlichen Eindrücken. Weitere Rezensionen findet Ihr bei der Klappentexterin und bei AstroLibrium.
David Foenkinos. Charlotte. Aus dem Französischen von Christian Kolb. Deutsche Verlags-Anstalt. München 2015. 237 Seiten. 17,99 €