Gewalt hat viele Gesichter. Eine Vergewaltigung ist vielleicht die brutalste Art sexueller Gewalt, aber nicht die einzige. Gewalt in der Ehe, ob physischer oder psychischer Art, war in Haiti schon vor dem Erdbeben keine Seltenheit.
Aber nun, da die Lebenssituation für Hunderttausende Familien noch viel schwieriger geworden ist, hat sich das ungleiche Machtverhältnis von Männern und Frauen noch weiter verschoben.
Séraphine Francois ist 35 Jahre alt. Sie lebt in der Stadt Léogâne, rund eine Autostunde westlich von Port-au-Prince. 80 Prozent der Stadt wurden beim Erdbeben zerstört, links und rechts von der Hauptstraße sieht man provisorische Lager soweit das Auge reicht. Séraphine wohnt in Santo Montpellier. Was sich nach französischem Mittelmeerflair anhört, ist hier nicht zu verspüren. Was man aber spürt, ist Séraphines Durchsetzungskraft, sobald sie anfängt zu sprechen. Die junge Frau ist eine der wenigen, die sich gewehrt hat. Séraphine und ihre Familie haben wie so viele Menschen ihr Haus beim Erdbeben verloren. Seitdem lebt sie unter einer Plastikplane. Doch sie hatte Glück: Nach einigen Monaten bekam sie einen Job. Sie arbeitete in einer richtiggehenden Männerdomäne, schnitt Holz zurecht für Übergangshäuser.
„Ich trug Hosen und eine Baseball-Mütze, denn das war einfach bequemer für die Arbeit. Und meine Kollegen waren fast alle Männer. Wir kamen gut miteinander zurecht.“
Ihre Augen funkeln, wenn sie von der Arbeit redet. Sie gab ihr neues Selbstvertrauen. Und auch heute trägt sie über ihrenkurzen Haaren eine Schirmmütze. Für Séraphines Ehemann war es nicht einfach, diese neugewonnene Selbst-ständigkeit seiner Frau zu akzeptieren. Plötzlich war Séraphine diejenige, die Geld verdiente und buchstäblich die Hosen anhatte. Und seine Eifersucht und Ohnmacht mündete schließlich in Gewalt.
„Er hat mir ins Gesicht geschlagen, und gedroht, mich umzubringen. Auf offener Straße, gleich hier am Rande des Camps.“
Séraphine flüchtete in ein naheliegendes Zelt und blieb dort für eine Nacht. Die Reaktion der Nachbarschaft war unter-schiedlich. Einige Menschen sagten, ihr Mann hätte das Recht, sie für ihr Verhalten zu bestrafen. Andere stellten sich vor die junge Frau. Am nächsten Tag schlug ihr Mann wieder auf Séraphine ein und verletzte dabei auch die kleine
Tochter, die sie auf dem Arm trug. Séraphine wandte sich schließlich an die Polizei, ein seltener Schritt für die meisten
Frauen in Haiti. Nach einigen Hürden, Unverständnis und einem Gang zum Frauenministerium in Port-au-Prince fand ihr
Fall schließlich Gehör. Ihr Mann wurde verurteilt und kam ins Gefängnis.
Haitis Macho-Kultur
Das Verhalten von Séraphines Ehemann ist Ausdruck einer Gesellschaft, die Frauen jahrelang unterdrückt hat.
„Haiti ist dominiert von Männern, es herrscht eine Macho-Kultur“, berichtet CARE-Mitarbeiter Max Charitable. „Zu viele Männer betrachten Frauen als ihr Eigentum, mit dem sie umgehen können, wie sie es für richtig halten.“
Ungewöhnlich offene Worte von einem Mann. Doch dieses Thema sollte nicht nur Frauen berühren. Wenn Väter befürchten müssen, dass ihre zehnjährigen Töchter vergewaltigt oder ihre Frauen auf dem Weg zum Wasserholen überfallen werden, dann ist der Kampf gegen diese Gewalt eine Aufgabe für jeden einzelnen. Gibt es denn überhaupt Fortschritte zu verzeichnen?
„Ja, in den letzten Jahren hat sich einiges getan, es herrscht mehr Bewusstsein für den besonderen Schutz von Frauen und Mädchen“, so Janet Meyers.
Auch Max Charitable sieht Fortschritte, gerade weil Frauen in Haiti in den letzten Jahren vor dem Erdbeben ökonomisch unabhängiger geworden sind. Aber es wird lange dauern, bis sich das Geschle-chterverhältnis in Haiti zum Besseren wandelt. Denn das Beben hat viele Fortschritte zunichte gemacht und alte Macht-strukturen bestärkt. Das Wissen, sich wehren zu dürfen, ist ein wichtiger erster Schritt in Richtung Gleichberechtigung und Schutz vor Gewalt. Und wie geht es Séraphine heute? Sie lebt mit ihren Kindern weiterhin in Santo Montpellier. Ihren Job hat sie verloren, weil sie wegen ihrer Verletzungen eine Zeit lang nicht arbeiten konnte. Ihr Mann wurde aus dem Gefängnis entlassen und kommt inzwischen regelmäßig zu Besuch. Er hat versprochen, sich zu bessern. Und Séraphine ist jetzt Mitglied in einem Mütterclub, dessen Gründung CARE unterstützt hat. Hier können sich die Frauen austauschen, gegenseitig Rat geben und Unterstützung. Hier sind sie unter sich und helfen sich gegenseitig. Und diese Unterstützung wird immer noch an allen Ecken und Enden gebraucht, vor allem von Frau zu Frau. Im Nachbarzelt lebt Séraphines Schwester. Sie hat bereits zwei Kinder und wurde wieder schwanger. Ihr Mann hat die Familie verlassen. Auch das ist Gewalt gegen Frauen. Wie gut, dass sie wenigstens eine starke Schwester wie Séraphine Francois hat. Die allen gezeigt hat, dass Frauen auch Rechte haben und Mut besitzen.
Bild: care.de
Aus: care_affair / care.de