Das zarte Pflänzchen der europäischen Medienöffentlichkeit

Die Wahlen in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und bald Deutschland haben bei allen Unterschieden zwischen den Ländern, Parteien, Kandidaten und Programmen eine Gemeinsamkeit: die werden im europäischen Ausland mit weit größerem Interesse verfolgt als dies noch vor zehn Jahren der Fall war. Natürlich muss man hier gleich ein erstes Caveat einschieben: das heißt nicht, dass es sich um gigantische Medienereignisse handelt; die meisten Leute interessieren sich dafür nach wie vor nicht. Es handelt sich nur um einen relativen Anstieg. Aber der relative Anstieg ist entscheidend, denn was sich langsam herauszubilden scheint ist etwas, das lange gefordert wurde - eine europäische Medienöffentlichkeit.
Dies schafft neue Herausforderungen für Medien wie für Politik. Bislang konnte man das Ganze pflichtschuldig abhandeln: kurzer Bericht über die Kandidaten, Aussicht auf die Chancen, "Was bedeutet das für Deutschland", fertig ist die Medienseite. Höflich abwarten, sich im stillen Kämmerlein freuen oder nicht freuen, diplomatische Note an den Gewinner, fertig. Aber diese einfachen Regeln funktionieren nicht mehr, denn der Aufstieg der Rechtspopulisten hat dafür gesorgt, dass Wahlen in Frankreich oder Großbritannien weit über das Land hinaus starke Auswirkungen haben, weit stärker als dies bisher der Fall war. Wer dieser Einschätzung widersprechen möchte, sehe sich nur den Brexit an.
Exemplarisch lässt sich all das an der Wahl in Frankreich vergangenen Sonntag beobachten. In der deutschen Presse war das Narrativ relativ klar: Emmanuel Macron war der einzige Kandidat, der ohne Wenn und Aber hinter der EU steht (wenngleich er einige Reformideen hat, die nach dem Ende der Wahl für deutliche Ernüchterung in deutschen Pressehäusern sorgen dürften). Fillion, Mélenchon und natürlich Le Pen waren in unterschiedlichen Graden gegen die EU in ihrer aktuellen Form. Weder für die deutsche Regierung noch für die meisten Medien konnte daher eine ernsthafte Frage geben, welcher dieser Kandidaten Hoffnungsträger Deutschlands in diesem Wettbewerb war. Dies schließt im Übrigen jegliche aktive Anteilnahme noch aus. Es ist nicht gerade so, als ob Le Pen sich nicht ausrechnen könnte dass Merkel ihr den elektoralen Untergang wünscht, genauso wie Obama wusste, dass Merkel lieber McCain und Romney hätte siegen sehen. Die Frage ist daher nur, ob die Regierung (und, in geringerem Maße, die Medien) dies offen aussprechen sollten.
Es ist diese Diskussion, die Tilo Jung von "Jung&Naiv" auf einer Bundespressekonferenz losgebrochen hat: Technisch gesehen hat die Regierung natürlich Recht. Sie haben Macron nicht gratuliert, sie freuen sich nur über seinen Sieg. Für den beiläufigen Beobachter erschließt sich der Unterschied nicht, und er zählt auch nur für Feinheiten im diplomatischen Protokoll (an das man sich in Europa, anders als in den USA, noch hält). Erneut, die Bundesregierung sagte nichts, was irgendjemanden überraschen dürfte. Die Frage bleibt daher die, die Tilo aufwirft: sollte die Bundesregierung mit dem Jubeln warten bis nach der Wahl, weil ihre Freude in Frankreich als Anlass genommen werden könnte, "jetzt erst Recht" Le Pen zu wählen und den aufdringlichen Deutschen eins auszuwischen?
Als sicher dürfte jedenfalls gelten, dass die Meinung des Bundeskanzleramts keinen Le Pen-Wähler davon abbringen wird, der Frontdame (haha) der Front National die Stimme zu geben. Gleichzeitig glaube ich auch nicht, dass schwankende Fillion- oder Mélenchon-Freunde sich von Merkels oder Seiberts Meinung zu Macron werden schwingen lassen. Der Effekt der Statements dürfte sich daher in Frankreich in Grenzen halten. Warum also nicht, wie Tilo vorschlägt, einfach die Klappe halten und bis nach der Wahl warten?
Für mich liegt der Grund dafür weniger in Paris als in Berlin. Dadurch, dass die Wahlen in Frankreich tatsächlich eine kleine, aber nicht mehr völlig unbedeutende europäische Medienöffentlichkeit interessieren, von der sich ein guter Teil auch in Deutschland befindet, scheint die Regierung der Überzeugung zu sein, dass sie ihrem eigenen Publikum (und ihren eigenen Wählern) zuhause keine zwei Wochen Stille zumuten kann. Frankreich spielt da eher eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist die Botschaft nach Hause: wir unterstützen die EU, wir wollen weiter mit Frankreich arbeiten, und wir sind zumindest rhetorisch auch offen gegenüber Macrons Reformvorschlägen. Die Regierung scheint sich zu erwarten, dass der (kleine) positive Effekt auf die Unterstützer deutschen EU-Engagements zuhause den (noch kleineren) möglichen negativen Effekt in Frankreich mehr als aufwiegt. Ich bin geneigt, ihr zuzustimmen, und ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft wesentlich mehr solche verschränkten innereuropäischen Wahlkämpfe sehen werden. Es wird lohnenswert sein, die Reaktionen der britischen und französischen Presse auf das Auf und Ab der AfD in den Umfragen zu sehen, und natürlich auf das finale Ergebnis im September.

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