In vielen abgelegenen Regionen sterben die Dörfer. Erst ziehen die jungen Leute weg. Dann schließt der Dorfladen, die Sparkassenfiliale. Der Arzt ist längst in Pension gegangen, der letzte Pfarrer auch. Zurück bleiben die alten Leute. Die Kirche verfällt. Den meisten Dörfern im ostwestfälischen Kreis Höxter geht es ähnlich. Ausnahmen bestätigen die Regel: In Ovenhausen brummt das Leben. Das Dorf feiert Karneval wie die Jecken im Rheinland, zieht zu Pfingsten in einer großen Prozession auf seinen Heiligen Berg und jetzt wird es auch noch digital. Die Kirche ist im Dorf geblieben – und geht ins Netz.
Meine Reportage aus dem Karneval in Ovenhausen zum Hören:
https://ecomedia.info/wp-content/uploads/2019/03/Ovenhausen_DLR.mp3… und zum Lesen:
Das Wunder von Ovenhausen: Einfach selber machen
Im ländlichen Kreis Höxter sterben Dörfer. Doch in Ovenhausen brummt das Leben.
Ovenhausen. An einer Durchgangsstraße reihen sich Fachwerkhäuser und Bauten der 60er Jahre. Ein paar Baumstümpfe erinnern an die alten Bäume, die verschwinden mussten, weil sie zu viele Blätter abgeworfen haben: Ein verschlafenes Dorf wie die meisten im südlichen Ostwestfalen. Doch aus einer Villa von 1930 strahlt das warme Licht eines Kronleuchters in die Dämmerung. „Bücher, Kaffee und selbst gebackenen Kuchen“ verspricht ein Schild in einem Glaskästchen, das auf dem Torpfeiler vor dem ehemaligen Pfarrhaus dem Regen trotzt.
Ob Heimatverein, Karnevalsclub oder freiwillige Feuerwehr. Niemand klagt in Ovenhausen über Nachwuchsmangel. Die Kinder der Flüchtlinge kicken im Sportverein mit den Einheimischen und Dorfbewohner zeigen den Senioren, wie man sich im Internet zurecht findet. Im Pfarrheim nebenan treffen sich zum Beispiel Bibelkreis, zwei Blaskapellen, Liturgiekreis und Leute, die Blutspenden organisieren.
Selbstwirksamkeit
„Wenn die Menschen das Gefühl von Selbstwirksamkeit erleben, bringen sie sich ein und motivieren andere“, erklärt Hans-Werner Gorzolka. Der 65jährige leitet das Bau- und Planungsamt des Kreises Höxter, ist Vorstand der katholischen Kirchengemeinde, ehrenamtlicher Kreisheimatpfleger, engagiert sich in der Dorfentwicklung und holt laufend neue Projekte in den Ort.
An der Kaffeetafel der Klönstube überschlagen sich die Dorf-Aktiven fast mit ihren Berichten: Der Karnevalsverein hat seinen Elferrat erweitert, weil so viele mitmachen wollen. Die Blaskapelle ist mit ihrem Musikunterricht so gefragt, dass sie zeitweise niemanden mehr aufnehmen konnte.
„Einige müssen den Karren ziehen“, ergänzt Hans-Werner Gorzolka eher beiläufig. Um die Menschen zum Mitmachen zu bewegen, gehe er auch „Klinken putzen“, rede immer wieder mit den Leuten bis er sie überzeugt hat. Das kann der kräftige Mann mit der Stimme, die irgendwie beruhigend wirkt. Der Pfarrgemeinderat und der Kirchenvorstand stehen hinter ihm.
Schlaue Dörfer: Smart Country Side
Viele reagierten skeptisch, als er mit ein paar Mitstreitern das frei gewordene Pfarrhaus zum Dorfzentrum aufwerten wollte: ein Klöncafé, eine Medienecke mit Laptops und Tablets, freies W-Lan, ein offener Bücherschrank für alle, ein Schachspiel für draußen, eine Boulebahn und Holzhütten im Garten als Treffpunkt für Jugendliche und Übernachtungsquartier für Pilger auf dem Jakobsweg, der durch das Dorf führt.
Dass es all das inzwischen gibt, verdankt Ovenhausen auch Hans-Werner Gorzolka. Als Abteilungsleiter bei der Kreisverwaltung weiß er „wo die Fördertöpfe stehen“. So vermietete er die obere Etage des Pfarrhauses an eine Familie, um Einnahmen für die Kirchengemeinde zu generieren und erkannte die Chance, als das Land Nordrhein-Westfalen das Förderprogramm Smart Country Side auflegte. Mit Geld aus Düsseldorf, Brüssel und Berlin lassen sich Ehrenamtliche zu digitalen Lotsen ausbilden, damit sie ihren Nachbarn das Netz erschließen: Onlinebanking, IT-Sicherheit, Datenschutz, Skypen, online Einkaufen und Arbeit suchen, „Soziale Medien“ oder Telemedizin. 15 Ovenhausener sind dabei und geben ihr Wissen weiter. Aus dem Programm erhielt die Kirchengemeinde vier Laptops und Tablets zum Üben.
“Kümmerer, die anderen mitnehmen”
Den teilnehmenden Orten programmiert das Frauenhofer Institut Apps, über die sich die Dörfler vernetzen können: Eine Anwendung für die Kirche, eine für die digitale Nachbarschaft einschließlich Notruf, Vermittlung von Mitfahrgelegenheiten, Kinderbetreuung oder die gemeinsame Nutzung von Werkzeug. Diese soll den direkten Austausch im Dorf fördern und ergänzen.
Einen „Kümmerer, der und die anderen mitnimmt“, nennt Heidrun Wuttke von der Wirtschaftsförderungsgesellschaft des Landkreises ihren Kollegen aus dem 1000-Einwohner-Dorf.
Zwischen den vielen Frauen und wenigen Männer an der Kaffeetafel der Engagierten im ehemaligen Wohnzimmer des Pfarrers sitzt Hans-Werner wie der Hahn im Korb – hört zu, erklärt, gibt Tipps und sortiert die vielen Ideen.
Weil so viele Frauen im Dorf das Stricken lernen wollten und sie es ihnen zeigen konnten, haben Elisabeth Wöstefeld und Marlene Wollesen, beide Mitte 70, einen Strickclub gegründet. Jetzt stricken jede Winterwoche rund 13 Frauen im Pfarrheim Schals und Mützen, erst für ihre Kinder, und Enkel, dann für die Spendenaktion „Weihnachten im Schuhkarton“. Inzwischen wärmen an die 200 Schals und Mützen aus Ovenhausen Kinderohren und -hälse in Moldawien, Weißrussland und anderen osteuropäischen Ländern.
Vertrauensvolle Beziehungen sind für Gorzolka der Kitt für das Zusammengehörigkeits- und Heimatgefühl.
Sein Name, sagt er, bedeutet auf Polnisch „Schnäpschen“. Sein Vater sei 1946 als Flüchtling entwurzelt und mittellos im benachbarten Nieheim gestrandet. Schon deshalb wünscht sich der Sohn eine weltoffene, einladende Heimat.
Flüchtlinge in der Dorfschule
Als vor drei Jahren 60 Flüchtlinge in die leer stehende Ovenhauser Grundschule einquartiert wurden, versammelten sich die Dorfbewohner. Manche hatten Angst, dass nun die Frauen nicht mehr alleine auf die Straße gehen könnten. Andere wollten helfen. Elisabeth Hofbauer, Mutter von vier Kindern und ehemalige Großhandelskauffrau, macht am liebsten „Dinge, die anderen nutzen“. Sie bot den Ankömmlingen mit weiteren Frauen Deutschunterricht an und sammelte mit Nachbarn Sachen für die Flüchtlingen: Kleidung, Möbel, Bettwäsche, Töpfe Geschirr. „Am Anfang mussten wir ihnen alles erklären“, erinnert sich die Rentnerin, „Waschmaschine, Elektroherd…“. Viele konnten weder lesen noch schreiben, geschweige denn, sich Termine aufschreiben.
In den Klassenräumen wohnen jetzt noch zwei Familien. Nada und ihr Mann Nasha aus dem Irak sitzen mit ihren beiden Kindern in einem fast leeren Klassenraum auf einem der gespendeten alten Sofas unter einem Plastik-Weihnachtsbaum, an dem bunte Reklame-Kugeln hängen. Die Kinder gehen in den Sportverein und ab 2019 in den Kindergarten. Zuhause spielen sie mit den Dingen, die ihnen die Dorfbewohner gebracht haben: Spielzeugautos und ein Bob, der Baumeister, der batteriebetrieben im Takt eines Presslufthammers vibriert. „Papa“, sagt der zweieinhalbjährige Talal und zeigt auf sein Spielzeug. Sein Vater Nasha hat über eine der Helferinnen einen Job in einer örtlichen Baufirma gefunden. „Harte Arbeit aber gut“, sagt der 34-jährige und schaut etwas müde lächelnd zu seinem Sohn. Mutter Nada antwortet ohne zögern auf die Frage, ob sie lieber in einer großen Stadt leben würde: „Nein, wir wollen in Ovenhausen bleiben.“ Die Leute, ergänzt Nasha, „helfen immer und laden uns zu all ihren Festen ein.“
Hans-Werner Gorzolka glaubt an eine Renaissance der Dörfer, wenn es diesen gelingt, junge Leute zu halten und Familien eine Heimat zu bieten. In Ovenhausen hat die Kirche Land als Baugrund zur Verfügung gestellt. Dort entstehen 15 Häuser. Der Quadratmeter kostet inklusive Erschließung 40 Euro. Eine Familie zieht aus Düsseldorf in die neue Siedlung. „Er arbeitet im Home Office und sie ist Lehrerin“, erzählt Gorzolka. 2019 bekommt auch Ovenhausen schnelles Internet. „Die Zukunft“, zitiert der Macher von Ovenhausen den Bundespräsidenten, „müssen wir nicht erleiden. Wir können sie gestalten.“
Ovenhausen Info:
Internetseite des Dorfes Ovenhausen
Smart CountrysideSmart Countryside, Blog über die Digitalisierung der Dörfer und Projektinfo