Das Wissen um Dzogchen

LN_thangkaDie Große Vollkommenheit – auch als „dzogpa chenpo“ oder einfach Dzogchen bekannt – beinhaltet eine tiefgründige Kenntnis um Grund, Pfad und Frucht (tib.; གཞི་ལམ་འབྲས་བུ། – gzhi lam ‘bras bu). Der Grund ist der ursprüngliche Zustand, eben die Natur des Geistes. Der Pfad ist die spirituelle Übung, die es einem ermöglicht, sich aus dem Daseinskreislauf zu befreien und stellt eben den Weg dar, durch den wir diese Natur des Geistes erkennen können. Die Frucht ist das Ergebnis oder eben das Ende des spirituellen Pfades. Diese drei Punkte findet man in allen möglichen Darstellungen der Lehre des Buddha. Sie beschränken sich nicht nur auf Dzogchen. Auf Ebene des Sutrayana ist es ein Pfad der Entsagung, wie er im Hinayana und Mahayana vom Buddha gelehrt wurde. Auf der Stufe des Tantra ist es ein Pfad der Verwandlung, von dem man annimmt, dass dieser von Buddha in Sambhogakaya-Form oder eben vom erleuchteten Prinzip gelehrt wurde. Und Dzogchen ist der Pfad der Selbstbefreiung, der zuerst von Garab Dorje (Prahevajra) in unserer Welt gelehrt worden ist.
Wie man sieht, muss daher auch das Verständnis vom Grund oder der Grundlage je nach Fahrzeug etwas verschieden sein. Bleiben wir mal beim Dzogchen. Hier wird der Grund anhand der drei uranfänglichen Weisheiten dargestellt. Diese drei ursprünglichen Weisheiten sind grundsätzlich eins, obwohl sie aus Gründen der besseren Erklärung getrennt dargelegt werden. Diese drei sind: Essenz, Natur und Energie (tib., ངོ་བོ་རང་བཞིན་ཐུགས་རྗེ། – ngo bo, rang bzhin, thugs rje).

Essenz – Natur – Energie

Beschäftigen wir uns zuerst mit der Grundlage – den drei Aspekten der Basis. Die wahre Natur aller Dinge – ihre Essenz – ist leer.Dieser Aspekt wird auch in den verschiedenen Mahayana-Sutras dargestellt. Leerheit ist wie der Raum, in dem sich auch alle möglichen Dinge manifestieren können. Da er eben der Bereich ist, in dem sich alles Dasein manifestiert, wird er auch Dharmadhatu (tib., ཆོས་དབྱིངས། – chos dbyings)་genannt. Und die wahre Dimension aller Dinge, diese Leerheitsdimension, wird auch Dharmakaya (tib., ཆོས་སྐུ – chos sku) genannt. Der Begriff „Dharmadhatu“ bezeichnet eben die wahre Natur aller Dinge und Wesen. Dharmata (tib., ཆོས་ཉིད། – chos nyid) wiederum ist der letztendliche Zustand der fühlenden Wesen. Diese beiden Begriffe „Dharmadhatu“ und „Dharmata“ darf man nicht miteinander verwechseln.
Die Natur des Grundes ist Klarheit, manchmal auch einfach als klar-deutlich bezeichnet oder Klar-Licht genannt. Die zuvor genannte Leerheit hat, auch wenn wir sie nicht sehen können oder sie als etwas Substanzielles angreifen können, ein Potential, das sich beständig als Klarheit manifestiert. Ungetrennt von dieser Leerheit manifestiert sich alles, egal ob rein oder unrein. Dieser Klarheitsaspekt des Grundes darf allerdings nicht mit irgendeiner Art Hellsichtigkeit oder einer visionären Schau verwechselt werden. Vielmehr ist damit gemeint, wie grundsätzlich Sein erfahren wird – eben rein oder unrein. Als menschliche Wesen haben wir eine unreine Seinserfahrung. Wir haben diese menschliche Schau, die sich von der eines Tieres ziemlich unterscheidet. Alle fühlenden Wesen haben ihre jeweilige unreine Vision, sowohl individuell als auch etwas kollektiver als Bereich des Daseinskreislaufs. Diese Vision ist die Manifestation des Klarheitsaspektes aufgrund des jeweiligen Karmas.
Grundsätzlich besteht aber bei allen fühlenden Wesen das Potential der reinen Schau. Es ist zumindest angelegt. Und in der reinen Vision manifestiert sich alles durch die fünf Weisheitslichter. Während die fünf Elemente Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum eben die Grundlage für die unreine Vision bilden, sind die Weisheitslichter von derselben Natur, jedoch stellen sie die reine Vision dar. Auf unserer Ebene der unreinen Schau sind wir in Verdinglichungen, Konzepten, Materialisationen so gefangen, hilft es uns bei Hunger nicht, einfach die Farbe Gelb zu visualisieren und sich vorzustellen, man würde ein Gebäck essen. Nein, wir müssen es tatsächlich zu uns nehmen, kauen und verdauen, damit unser Hunger gestillt ist. Genauso hilft es für uns menschliche Wesen nicht, bei Kälte die Farbe Rot zu visualisieren, um sich zu wärmen. Nein, wir müssen tatsächlich ein Feuer entzünden. Jedoch können wir uns durch die Praxis, wo wir am Ende alles in seine wahre Natur auflösen, in die reine Vision eintreten.
Diese beiden Aspekte – Essenz und Natur – werden im Dzogchen als „ursprüngliche Reinheit“ und „spontane Präsenz“ (tib., ཀ་དག་ལྷུན་གྲུབ། – ka dag, lhun grub) dargestellt. Diese ursprüngliche Reinheit ist nichts, das durch Beseitigen mit Hilfe irgendwelcher spiritueller Übungen hergestellt werden muss, sondern es ist die Leerheit, die immer schon vorhanden ist. Obwohl der Grund eins ist, die Pfade aber zwei – wie im Wunschgebet Samantabhadras verkündet – fallen die fühlenden Wesen durch Nichtgewahrsein der dualistischen Täuschung von Subjekt und Objekt anheim. Dadurch entsteht ein Gefühl von einem Selbst im Gegensatz zu etwas Anderem, das Selbst greift nach Bestätigung und wehrt für dieses Selbst Bedrohliches ab. Durch das Ansammeln von negativem Karma wird die unreine Schau immer dichter und kompakter. Dennoch ist diese unreine Vision auch von Anfang an nicht getrennt von unserer ursprünglichen Natur. Daher muss sie auch nicht entfernt werden, sondern man muss verstehen, dass die eigene wahre Natur uranfänglich vollkommen und rein ist.
Der Ansatz im Dzogchen ist, anderes als im Tantra, bei dem die unreine Schau in eine reine verwandelt werden muss, einfach Kenntnis der vollkommen reinen Natur zu erlangen, die seit jeher präsent ist. Diese seit jeher reine Natur wird ein erstes Mal aufgezeigt und dann besteht die Praxis im Dzogchen, immer wieder in diese reine Natur einzutauchen.
Was ist es nun, dass diese reine wie unreine Visionen erscheinen lässt? Diese leere Klar-Lichtheit hat einen weiteren Aspekt, nämlich den der Energie bzw. den schöpferischen Ausdruck (tib., རྩལ། – rtsal). Aufgrund von Unwissenheit – auf Ebene der Sutras – beginnt der gesamte Daseinskreislauf. Aber diese Unwissenheit ist kein Bildungsmangel oder irgende andere Frage von Desinformation. Diese Unwissenheit ist ein Mangel an Gewahrsein (tib., མ་རིག་པ། – ma rig pa) unserer wahren Natur, die seit ursprünglich rein und spontan präsent bzw. selbst-vollendet ist. Da die fühlenden Wesen sich dessen nicht gewahr sind und die Erscheinungen als etwas vom Geist und somit von ihrem Selbstgefühl getrenntes ansehen, suchen sie außerhalb ihrer selbst und sind so im Kreislauf von Ergreifen und Ergriffenem gefangen. Durch dieses endlose dualistische Spiel ist schließlich eine Gewöhnung an Nichtgewahrsein eingetreten, was zu einem Kreislauf an Leiden und Lebensqual führt. Und dieser endlose, dualistische Leidenskreislauf wird durch das Gewahrwerden der Ausstrahlungskraft des Geistes zunächst unterbrochen, bis er einem schließlich durch fortwährendes Gewöhnen an die ursprünglich reine, klar-lichte wahre Natur des Geistes wieder vertraut geworden ist.

Dies beschließt vorerst die Darstellung über den Grund. Das nächste Mal werde ich etwas über den Pfad berichten. Also dranbleiben!


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