Das weisse, unbeschriebene Blatt als Faszinosum, als offenes Fenster hinaus auf eine Landschaft, die erst noch entstehen muss und die es genau so noch nie gegeben hat. Mit dem ersten Wort, dem ersten Satz gebe ich dieser Landschaft eine Farbe, setze vielleicht ein paar dunkle Steine auf einen Talboden, nicht kantig, sondern vom Wasser über Jahrtausende gerundet. Liegen die ersten Steine, folgt in einer gewissen Logik der Wasserlauf, der sich zwar immer wieder neue Wege bahnt, aber im Talboden gefangen bleibt und nicht bergauf fliessen wird. Dann die Bergflanken, steil und scheckig mit saftigen Wiesen und schwarzen Waldpartien, aufstrebend bis zu den baumlosen Gipfeln. Irgendwo tost ein Wasserfall, der nicht zu sehen ist. Mit ein paar kräftigen Sätzen sind auch die Bewohnerinnen und Bewohner dieser zeitlosen Landschaft eingeführt: Nachfahren von Bauernfamilien, die vor Jahrhunderten in sicherem Abstand zum Bergbach ein kleines Dorf gegründet hatten, das heute nicht viel grösser ist als zu jener Zeit. Damals wie heute haben das raue Klima und die steilen Hänge die Gesichter der Dorfbewohner geformt, ihre Rücken gebeugt und die Hände schrundig werden lassen.
Es war nicht der erste Fremde, der sich in dieses Hochtal verirrte. Doch sein Erscheinen und vor allem sein Bleiben sollten die Dorfgemeinschaft in ihrer über Jahrhunderte gewachsenen Grundfeste erschüttern. Der Fremde tauchte ein erstes Mal an einem jener Herbsttage auf, wo tiefe Wolkenfetzen den grauen Bergflanken entlang strichen und der Ruf des Steinadlers für lange Zeit ein letztes Mal zu hören war. Einer der Dorfbewohner gab später zu Protokoll, er habe an eben jenem Tag zuoberst im Tal ein Wolfsrudel gesichtet, was jahrzehntelang nicht mehr vorgekommen war.
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Die ersten Pinselstriche auf dem weissen Blatt sind also getan. Aus der unendlich vielgestaltigen Leere ist eine neue Welt geboren, grob skizziert zunächst. Und noch ist unklar, ob daraus wirklich eine Erzählung wird – oder ein Roman. Oder ob das Blatt, wie so manches vor ihm, in einer meiner geduldigen Schubladen landen und dort verblassen wird. Ein neues weisses, unbeschriebenes Blatt liegt jedenfalls schon wieder bereit.
Bild: «Outflow» von Jim O’Neil, CC-Lizenz via flickr