von Steffen Hirth
Nach einer längeren, der beruflichen Orientierung geschuldeten Pause meldet sich die Geozentrale zurück im virtuellen Raum. Das heutige Thema ist ein Beispiel dafür wie geographisch Kinobesuche sein können und wie alltagsnah Geographie; selbst dann, wenn sie sich mit vermeintlich abgehobenen Dingen wie Raum und Zeit beschäftigt.
Die Suche nach Wahrheit ist, neben dem Wunsch die Welt zu verbessern, eines der Leitmotive der Wissenschaften. In der Regel wird heute jedoch nicht mehr von einer absoluten Wirklichkeit ausgegangen. Wie wir die Wirklichkeit und unsere Handlungen darin wahrnehmen hat viel damit zu tun, welche Konzepte von Raum und Zeit sowie von "uns" und den "Anderen" wir haben. Der Film "Cloud Atlas" greift post-strukturalistische und relationale Ansätze auf, indem seine Figuren in unterschiedlichsten Epochen sich gegen herrschende Strukturen - ob Sklaverei oder Atomkraftlobby - auflehnen, auf diese Weise ihren Weg aktiv mitbestimmen und das Leben ihrer Nachkommen wesentlich beeinflussen. Die daraus resultierenden weitreichenden Verbundenheiten bzw. Relationalitäten, die nun auch in der Popkultur angekommen sind, beschäftigen schon seit einiger Zeit auch Humangeograph_innen; sie laden zu einem Blick in die n-Dimensionalität unserer Wirklichkeit ein und beinhalten spannende Implikationen für den freien Willen und Verantwortung.
Schon in "Matrix" (USA, 1999) bewiesen die Wachowski-Geschwister einen Sinn für Erkenntnistheorie. Der Film thematisierte in Anlehnung an Sokrates' "ich weiß, dass ich nichts weiß" und Platons Höhlengleichnis die Tatsache, dass wir nicht wissen können wie wirklich unsere Wirklichkeit ist (Watzlawick 2009 [1976]). Nicht ohne Grund findet "Matrix" auch im Kapitel zum Konstruktivismus des geographischen Lehrbuchs von Paul Reuber und Carmella Pfaffenbach (2005) Erwähnung. Der neue Film der Wachowskis, "Cloud Atlas" - eine deutsch-US-amerikanische Produktion gemeinsam mit Tom Tykwer -, könnte ebenfalls exemplarisch im Lehrbuch aufgegriffen werden, allerdings thematisiert er weniger die Relativität aller Wahrnehmung, als vielmehr die machtvollen Strukturen und Interdependenzen, die Menschen relational verbinden (vgl. Abb. 1).
Alle Figuren im Film stehen vor besonders wichtigen Entscheidungen - ihr Handeln wirkt sich relational auf die Menschen aus, die mit und nach ihnen leben. 1849 entschließt sich der amerikanische Anwalt Adam Ewing auf einer Schiffsreise nach Europa, entgegen den vorherrschenden Normen und Sitten seiner Epoche, dazu, dem Sklaven Autua, der als Blinder Passagier an Bord ist, zu helfen. Da der junge Komponist Robert Frobisher im Jahr 1936 nur in Besitz der einen Hälfte von Ewings Tagebuch kommt, beauftragt er seinen Freund Rufus Sixsmith damit, die zweite Hälfte zu besorgen. Das Manuskript gelangt über Umwege der verschiedenen Episoden des Films - der Physiker Sixsmith wird 1976 von der Atomkraftlobby ermordet, so dass es in die Hände der Journalistin Luisa Rey gelangt - bis ins Jahr 2144 wo es, inzwischen verfilmt, den weiblichen Klon Sonmi~451 dazu ermutigt, eine Revolution gegen die in der dortigen Konzernokratie übliche Versklavung und industrielle Verwertung geschlachteter Klone zu initiieren.
So abstrus die Geschichte in aller Kürze erscheinen mag, der Film verdeutlicht die Raum und Zeit übergreifende Verbdundenheit von Menschen über die Entscheidungen, die sie treffen. Die Hauptfiguren geraten in ihrer Epoche in irgendeiner Weise in Gefahr. Letztlich entscheiden sich alle dazu, sich gegen die sie bedrohenden oder sie unterdrückenden Strukturen, die gesellschafltlich festgeschrieben sind und von machtvollen Antagonisten verteidigt werden, aufzulehnen: sei es die "biopolitische Macht" (vgl. Foucault 2008), die 1849 und 2144 über die Körper der Sklav_innen ausgeübt wird, sei es die Lebensgefahr, der Luisa Rey 1976 trotzt, indem sie über die Machenschaften der Atomkraftlobby recherchiert, oder sei es der Verleger Timothy Cavendish, der 2012 aus einem Altersheim ausbricht.
Die Figuren nehmen, wie es so schön heißt, "ihr Schicksal in die Hand" und negieren damit den Schicksalsbegriff, der ja eine Vorherbestimmung des eigenen Lebensweges bezeichnet. Die Figuren nehmen hingegen aktiv Einfluss, indem sie sich dazu entscheiden, physische Gewalt und gesellschaftliche Widerstände wie gedankliche, religiöse und ideologische Hürden zu überwinden. Sie verändern damit "Geschichte", nehmen aktiv Einfluss auf Raum und Zeit, so dass ihre Entscheidungen und ihre Handlungen noch Jahrzehnte oder Jahrhunderte später im Leben völlig fremder Menschen fortwirken. Was der Ziegenhirte Zachary im Jahr 2346 mit "wahr-wahr" umschreibt, bezeichnet demnach weniger eine Absolutheit von Wahrheit, als vielmehr die relationalen Verbundenheiten, welche Wahrheiten und Wirklichkeiten erschaffen. Er steht "auf den Schultern von Giganten", jener Menschen aus den Episoden vor seiner Zeit.
Im Folgenden möchte ich zeigen, wie eine solche post-strukturalistisch und relational geprägte Ontologie, sich in der humangeographischen Betrachtung von Raum und Zeit bei Doreen Massey (2011 [1992]) äußert, die sich dabei an physikalischen Raumzeit-Begriffen anlehnt und von der Möglichkeit einer Politisierung von Raum/Raumzeit spricht. Diesen Ansatz möchte ich anschließend mit einigen Überlegungen fortführen, die - so ungewohnt es klingt - nahe legen "Zeit" als einen Namen für etwas gänzlich Räumliches zu sehen. Die vermeintliche Absolutheit und Linearität von Zeit, die gnadenlos an uns als passiven Objekten vorübergeht, was ja durch die Relativitätstheorie in Frage gestellt wird, würde dann ersetzt durch machtvolle Akteur_innen, die sich aktiv durch den sich verändernden Raum bewegen bzw. sich so in neue Wirklichkeiten begeben oder sie - je nach Interpretation - dadurch erst schaffen. Wie im Film "Cloud Atlas" nimmt eine solche Sichtweise jeden Menschen in die Verantwortung aktiv an der Konstruktion unserer relational geteilten Welt teilzuhaben, was praktisch gesehen einen radikal-demokratischen und wahrscheinlich weitaus effektiveren Ansatz darstellt, um strukturelle Probleme wie den Klimawandel oder ungerechte Handelsbeziehungen (Young 2006: 114) anzugehen; jedenfalls effektiver als ein Konzept vom autonomen Selbst, das nur gefordert ist, sich um seine privaten Angelegenheiten zu kümmern (Whatmore 1997, Popke 2003: 302).
Die vierdimensionale Raum-Zeit
In ihrem kürzlich ins Deutsche übersetzten Artikel von 1992 "Politik und Raum/Zeit" schließt Doreen Massey (2011 [1992]) mit einer veralteten Konzeption des Raumes ab, derzufolge Raum ein starres Gebilde sei, das, durch das Fehlen von Zeitlichkeit, ohne jegliche Dynamik und damit a-politisch sei. Sie stellt überzeugend dar, dass diese Konzeption von Raum eine der klassischen, newton'schen Physik entnommende Vorstellung ist, da dort Raum und Zeit unabhängig voneinander existieren und Raum eine absolute Größe sein kann (ebd.: 123). Seit Einsteins Relativitätstheorie ist die Physik aber - und hier zitiert Massey (ebd.) den Physiker Russell Stannard (1989: 35) - dazu übergegangen, "Raum und Zeit nicht als getrennte Entitäten zu denken, die unabhängig voneinander existieren - ein dreidimensionaler Raum und eine eindimensionale Zeit. Stattdessen besteht die zugrunde liegende Realität aus einer vierdimensionalen Raum-Zeit". Es geht ihr nicht darum, so betont Massey (2011 [1992]: 123 f.), die Unterschiede einer räumlichen und zeitlichen Dimension aufzuheben, sondern die Wechselbeziehung zwischen Raum und Zeit und ihre Untrennbarkeit hervorzuheben. Eine alternative Raumvorstellung müsse also auch "auf die unwiderlegbare Vierdimensionalität (oder n-Dimensionalität) von Dingen" hinweisen, so dass Raum weder als statisch noch Zeit als raumlos aufzufassen sei (ebd. 127).
Doch wenn Raum keine absolute Größe ist, in welcher Form existiert er dann? - Die Existenz des Räumlichen stehe, so Massey, in Zusammenhang mit den Wechselbeziehungen von Objekten (ebd.: 124). Wenn Stannard (1989: 33) sagt, "Damit 'Raum' entstehen kann, braucht es zumindest zwei Partikel", sei das nichts anderes, als wenn "allgemein - selbst in den Sozialwissenschaften - behauptet wird, dass Raum nämlich nicht absolut ist sondern relational" (Massey 2011 [1992]: 124).
Diese Sichtweise wirft einen neuen Blick auf die Beziehungen zwischen Objekten. Diese "werden nicht im Raum und in der Zeit sichtbar, es sind vielmehr diese Beziehungen selbst, die Raum und Zeit schaffen und definieren" (Stannard 1989: 33, zit. n. Massey 2011 [1992]: 126, Hervorh. i. Or.). Raum nicht als absolut sondern relational anzusehen bedeute, die Elemente der Dislokation, der Freiheit und der Möglichkeit in das Konzept von Raum zu integrieren, was auch die Möglichkeit einer Politisierung von Raum/Raum-Zeit beinhalte (ebd.: 127). Mit anderen Worten: Die Abkehr vom starren zeitlosen Raum impliziert eine Dynamik, die bedeutet, dass wir nicht nur schauen müssen, wie der Raum aussieht, sondern auch, was dort passiert - dies zielt wohl auch auf die Diskurse und Praktiken ab, die von Akteur_innen in der Raum-Zeit vollzogen werden, und macht das Konzept dadurch auch politisch.
In ihrem abschließenden Plädoyer, stellt Massey (ebd.: 132) zusammenfassend fest, "dass das Räumliche integral an der Produktion von Geschichte und damit der Möglichkeit von Politik ebenso beteiligt ist wie das Zeitliche am Geographischen". Außerdem weist sie nochmals auf die "Untrennbarkeit von Zeit und Raum [und] ihre gemeinsame Konstitution durch die Wechselbeziehungen zwischen Phänomenen" hin und betont die "Notwendigkeit in Begriffen von Raum-Zeit zu denken."
Space-space statt space-time?
Die unentwirrbare Verflechtung von Raum und Zeit ist sicherlich eine wertvolle Erkenntnis, aber jüngere Überlegungen in der Physik legen nahe, dass dieses Modell vielleicht noch nicht ganz konsequent zuende gedacht ist. Die Physiker Amrit Sorli, Davide Fiscaletti und Dusan Klinar (2010, 2011) stellen das Konzept von drei räumlichen und einer zeitlichen Dimension (3D + T) in Frage - sie bevorzugen stattdessen eines mit vier räumlichen Dimensionen (4D), wie es auch in den mathematischen Berechnungen der Relativitätstheorie zugrunde gelegt wird. Was ist also Zeit? Sie ist ein Messsystem, das sich aus der Geschwindigkeit des Lichts ergibt. Uhren sind demnach Referenzsysteme um die Frequenz, Geschwindigkeit und die numerische Ordnung von räumlicher Veränderung zu messen (Sorli et al. 2010). Wenn Zeit letztlich räumliche Veränderung, also die Bewegung, die wir mit Uhren messen, ist, ergibt sich ein Bild, das unsere Welt vielleicht besser erklären kann. "Zeit" ist dann nicht mehr als ein Name für ein räumliches Phänomen, das wir entweder mit unserem Erinnerungsvermögen - also unserem inneren Referenzsystem - wahrnehmen können, z.B. indem wir es an einen wiederkehrenden Zirkel wie Tag und Nacht knüpfen, oder, deutlich genauer, an die Bewegung des Lichts im Raum.
Möglicherweise nehmen wir Zeit als etwas vermeintlich vom Raum getrenntes wahr, weil wir sie mit unseren Sinnen in erster Linie als linear empfinden. Einsteins Relativitätstheorie hat aber nicht nur nahegelegt, dass Raum und Zeit unentwirrbar miteinander verflochten sind, sondern auch, dass "die Richtung der Zeit von der Geschwindigkeit des Beobachters abhängt" (Hawking und Mlodinow 2010: 100). Dass Zeit eine Richtung hat, kann also durchaus im räumlichen Sinne verstanden werden.
Der Dimensionen mehr als vier?
Rob Bryanton verfolgt in seinem Projekt "Imagining the tenth dimension" (siehe Video weiter unten) einen interessanten Ansatz, indem er vom mathematisch-geometrischen Verständnis von Dimensionen ausgehend überlegt, wodurch sich die Dimensionen auszeichnen, die vielleicht "da" sind, wenngleich unsere Sinnesapparate nicht dafür gebaut sind sie zu "sehen". Es fällt uns nicht schwer einen Würfel, also ein dreidimensionales Objekt, zu denken - unsere Sinne sind dafür gemacht. Eine zweidimensionale Welt können wir uns ebenfalls noch recht gut vorstellen, auch wenn ein imaginäres Wesen, z.B. ein Quadrat, dort seine Umwelt völlig anders wahrnehmen würde, wie Edwin A. Abott in seinem Roman "Flatland: A Romance of Many Dimensions" von 1884 zeigt: Ein solches Wesen könnte sich auf seiner völlig flachen Ebene nur vorwärts und seitwärts bzw. in die vier Himmelsrichtungen (NSOW) bewegen, niemals aber nach oben oder nach unten, "in den Raum hinein". Ein Wesen in einer eindimensionalen Welt könnte sich lediglich auf einer Linie vor oder zurück bewegen. In einer nulldimensionalen Welt wäre hingegen der gesamte Kosmos in einem unendlich kleinen Punkt enthalten - er wäre alles und nichts (wir erinnern uns: "Damit 'Raum' entstehen kann, braucht es zumindest zwei Partikel"; Stannard 1989: 33).
Abb. 2: Null- bis vierdimensionale Objekte/Formen im mathematisch-geometrischen Sinne. Sie stehen jeweils orthogonal/"im rechten Winkel" zueinander: Punkte aneinander gereiht ergeben eine Linie, Linien nebeneinander eine Ebene, viele Ebenen übereinander ergeben den dreidimensionalen Raum, orthogonal dazu ist Raum vierdimensional ineinander verflochten.
Es geht bei diesen Gedankenspielen nicht darum zu behaupten, dass irgendwo in der Welt solche Wesen existieren, sondern um die mathematisch-geometrische Analogie, die daraus folgt, dass wir tatsächlich in einer mehr- bzw. n-dimensionalen Welt leben. Abotts (1884) Romanfigur - ein flaches Quadrat - kann sich absolut nicht vorstellen, was ein Würfel ist, weil es in einer zweidimensionalen Ebene namens "Flatland" lebt, bis es schließlich durch einen Besucher aus "Spaceland" in die dritte Dimension mitgenommen wird. Ebenso kann es sein, dass wir mit unseren Sinnen höhere Dimensionen nicht wahrnehmen können, obwohl sie vielleicht existieren. Flatland, das Buch von Abbott, gibt es dank seines hohen Alters frei verfügbar. Zur visuellen Unterstützung sind lohnenswert die Erläuterungen des Astrophysikers Carl Sagan sowie zwei unabhängige Verfilmungen: "Flatland - The Film" (komplett) und "Flatland: The Movie" (als Trailer).
Zum Glück müssen wir aber nicht unbedingt warten, bis uns ein "Wesen" aus einer höheren Dimension abholt. Denken wir die Analogie, dass viele Ebenen (2D) orthogonal gestapelt einen Würfel (3D) ergeben, weiter, dann ergeben viele Würfel hintereinander einen vierdimensionalen Raum (vgl. Abb. 2). Viele dreidimensionale Räume hintereinander sind im Grunde das, was wir als "Zeit" bezeichnen bzw. sich verändernder Raum, womit wir wieder bei Sorli et al. (2010, 2011) wären. Diese Analogien fortzuführen macht neugierig und wirft die Frage auf, was denn dann "im rechten Winkel" zur "space-time" bzw. zum vierdimensionalen "space-space" ist?
Kosmos = unendlich viele n-dimensionale Raumabfolgen?
Im Prinzip liegen außerhalb bzw. orthogonal zu der für uns wahrnehmbaren Linearität von Zeit (viele Räume hintereinander) theoretisch unendlich viele weitere "Zeiten" oder Raumabfolgen, auf die wir keinen Zugriff haben, was aber nicht automatisch heißen muss, dass sie nicht existieren. Diese Überlegung stellt Rob Bryanton in seinem Buch und Videoprojekt "Imagining the tenth dimension" an. Für ihn ist Zeit nicht linear, sondern wir stehen mit jeder Entscheidung vor einer Verästelung der Lebenswege in Form von unzähligen Handlungsmöglichkeiten, von denen jeder zwar linear in eine Wirklichkeit führt, was aber nicht heißt, dass die anderen Wirklichkeiten nicht existieren. Auch wenn wir uns letzlich für einen Weg entscheiden müssen, liegt in der Wahl der Richtung unser freier Wille.
Ob solche Vorstellungen von Raum und Zeit, wie die Bryantons, wahr sind, ist bislang nicht empirisch überprüfbar; sie sind letztlich höchstens denkbar. Überlegungen zu parallelen Wirklichkeiten werden allerdings auch in der Quantenphysik angestellt. Wenn ich das Experiment mache, eine handvoll Murmeln fallenzulassen, dann stellt sich am Ende ein bestimmtes Ergebnis, eine Anordnung der Murmeln im Raum ein, das aber auch völlig anders hätte ausfallen können. Dieses Experiment auf die Quantenmechanik, also den Mikrokosmos, übertragen, kommt der Physiker Brian Greene (2012) zu einer spannenden Perspektive auf die Wirklichkeit und die möglichen Ergebnisse bzw. Wege, die in ihr möglich sind:
"Obwohl die Quantenmechanik jahrzehntelang eingehend erforscht wurde und dabei eine Fülle von Daten zusammengekommen sind, welche die mit ihrer Hilfe berechneten Wahrscheinlichkeiten bestätigen, vermochte bisher niemand zu erklären, warum sich in einer bestimmten Situation nur eines der vielen möglichen Ergebnisse einstellt. [...] Diese beträchtliche Wissenslücke gab im Laufe der Jahre Anlass zu vielen kreativen Vorschlägen. Der verblüffendste war gleichzeitig einer der ersten: Vielleicht, so die Aussage, ist die vertraute Vorstellung, jedes Experiment würde zu einem einzigen Ergebnis führen, ja falsch. Die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik - oder zumindest eine Sichtweise darauf - legen die Vermutung nahe, dass alle möglichen Ergebnisse sich auch einstellen, wobei jedes davon in einem anderen Universum zu Hause ist. Wenn eine quantentheoretische Berechnung vorhersagt, dass ein Teilchen hier oder dort sein könnte, ist es im einen Universum hier und im anderen ist es dort. Und in jedem derartigen Universum befindet sich auch ein Exemplar von uns, die wir das eine oder andere Ergebnis beobachten und - zu Unrecht - glauben, unsere Realität sei die einzige. Wenn man sich klarmacht, dass die Quantenmechanik die Basis aller physikalischen Prozesse darstellt, von der Verschmelzung der Atome in der Sonne bis zu den Nervenimpulsen, die das Substrat für unser Denken bilden, wird die Tragweite einer solchen Vorstellung deutlich. Sie besagt, dass es keine verpassten Chancen, keine nicht eingeschlagenen Wege gibt. Aber jeder derartige Weg - jede Wirklichkeit - ist vor allen anderen verborgen" (Greene 2012: 15 f.; Hervorh. i. Or.).
Es geht mir auch hier nicht um esoterische Interpretationen davon, wie wir in eine höhere, fünfte Dimension "aufsteigen" können, um mit fremden Wesen oder Alter Egos in Parallelwelten "Kontakt aufzunehmen". Wenn wir unsere vierdimensionale Existenz "transzendieren" können, dann in einem gedanklichen Sinne - und dies ist einen Versuch wert: Die mathematisch-geometrische Analogie fortzusetzen und die Relativität der Raumzeit bzw. das Bild von Zeit als sich verändernder Raum (Sorli et al. 2010, 2011) sowie die theoretische Möglichkeit der Existenz von Paralleluniversen (Greene 2012) einzubeziehen, würde bedeuten, dass unsere Wirklichkeit weitaus mehr räumliche Dimensionen haben kann, als wir im Alltag wahrnehmen. Es würde bedeuten, dass unsere Reise durch die "Zeit" (von der Geburt bis zum Tod) nicht so linear ist, wie sie zunächst erscheinen mag. Sie könnte vielmehr eine Reise durch den "space-space" sein, von der wir nicht unbedingt etwas mitbekommen, weil es für uns traditionellerweise erscheint, als ob wir in einem Zug säßen, den wir weder lenken, noch anhalten können und in dem wir praktisch immer das Gefühl haben, nach vorne zu fahren. In Wirklichkeit funktioniert dieser Zug vielleicht aber ganz anders - Was, wenn wir es wären, die nicht nur die Weichen stellen, sondern ständig die Schienen neu verlegen würden?
Unsere alltäglichen Entscheidungen und Handlungen könnten es sein, die darüber entscheiden in welche Position des Multiversums wir uns bewegen. Dies mag sich zeitlich anfühlen, denn ich treffe eine Entscheidung, führe sie aus und blicke aus der Zukunft zurück in die Vergangenheit auf meine Handlung zurück. In Wirklichkeit war all dies räumlich: Von der Ausgangsposition A (bzw. "Zeitpunkt A") aus habe ich mich in die Richtung der Wirklichkeit von Pos. B bewegt, dies war aber nur das eine Ergebnis/ein spezifischer Weg für den ich mich entschieden habe. Von Pos. A aus gesehen, hätte ich aber noch weitere Möglichkeiten (B-2, B-3, B-4...B-n) Wirklichkeit werden lassen können. Da ich - als "Gefangener" der Linearität der Zeit - mich nun aber für B-1 entschieden habe, kann ich nie mehr zu Pos. A zurück. Die Raumabfolge A_B-2 mag zwar existieren (in einem Paralleluniversum), aber ich bin bereits in der Abfolge A_B-1 "gefangen", in der jedes "_" ein Quantensprung ist. Die Metapher vom "Gefangenen" täuscht allerdings über eines Hinweg: Ich habe von A_B-1 aus gesehen immernoch C-n! Jeden Moment aufs Neue bin ich vor eine Entscheidung gestellt in welche Richtung der n-dimensionalen Raumabfolge ich gehen möchte. Jedesmal tut sich aufs Neue eine Verästelung von alternativen Möglichkeiten auf, von denen ich mich für einen Weg entscheiden muss, selbst, wenn ich vermeintlich "nichts tue".
Rückblickend mag unser Leben schicksalhaft erscheinen, alles ist mehr oder weniger erklärbar, eine vermeintlich notwendige Kette von Kausalitäten. Wenn wir so denken und daraus "Schicksal" ableiten, ignorieren wir, dass wir im unendlich kleinen Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft immer wieder dazu gezwungen werden zu handeln, dass dies aber jedesmal mehrere, vielleicht unendlich viele Möglichkeiten impliziert (deren Unterschied darin liegen mag, ob ich meinen kleinen Finger eine gegen unendlich gehend kleine Raumeinheit weiter oder weniger weit krümme). Spürbar wird die Tragweite dieses Konzepts aber kaum an meinem kleinen Finger. Ihn einen Tick anders zu bewegen, würde diesem Verständnis nach zwar durchaus bedeuten, dass ich sozusagen räumlich in ein neues "Paralleluniversum" eintrete, aber dieses "Universum" läge räumlich so nahe an meiner Ausgangsposition A, dass ich keinen signifikanten Unterschied wahrnehmen könnte. Es gibt wahrlich wichtigere Entscheidungen.
Vom relationalen Raumbegriff zu neuen Perspektiven auf Verantwortung
Zeit geht, wenn wir sie so denken wollen, nicht an uns vorüber, sondern wir bewegen uns durch den sich verändernden Raum mit fortwährenden Handlungsentscheidungen in jeweils neue Wirklichkeitsrichtungen. Zu einer gewissen Geschwindigkeit sind wir dabei offenbar gezwungen, vielleicht sind wir mit unserer Geburt "angestupst" worden und müssen bis an unser Lebensende durch den mindestens vierdimensionalen Raum steuern, ein wenig wie Sandra Bullock als Busfahrerin im Film "Speed" (USA, 1994), die einerseits nicht anhalten kann, da bei der Unterschreitung einer bestimmten Geschwindigkeit eine Bombe detoniert, andererseits aber geschickt manövrieren muss, um zu überleben.
Diese Sichtweise deckt sich besser mit aktuellen Begriffen von Raum und Zeit in der Physik und sie spiegelt sich in poststrukturalistischen und relationalen Ansätzen der Sozialwissenschaften wieder. Forderungen nach einer relationalen Ethik (Whatmore 1997) lehnen Begriffe eines autonomen Selbst, also einem von seiner Umwelt trennbaren Individuum ab und betonen die weitreichenden Verbindungen, die unsere Wirklichkeit ausmachen. Dies nimmt uns letztlich alle in die Verantwortung, die Raum und Zeit übergreifenden Verbindungen in unsere Entscheidungen einfließen zu lassen. Wie die Figuren in "Cloud Atlas" zeigen, nehmen wir über unsere Handlungen aktiv an der Konstruktion unserer eigenen und der Zukunft anderer teil bzw. wir beeinflussen unsere Bewegung in die räumliche Richtung, in der unsere Zukunft liegt, mit. Bei allen uns hemmenden Strukturen, es gibt immer die Möglichkeit - und vielleicht liegt darin unsere Verantwortung - sich aktiv zu bemühen, das Ruder rumzureißen, um in diejenige Wirklichkeit zu navigieren, in der wir sein wollen.
Wahrscheinlich werden die wichtigen Entscheidungen über Leben und Tod, Liebe und Hass nirgendwo monumentaler in Szene gesetzt, als in Hollywood. In "Cloud Atlas" sind es überwiegend große Heldentaten, die die Welt wesentlich verändern - wer wollte auch einen Film sehen, indem ich die Welt verändere, indem ich meinen kleinen Finger krümme? Es gibt jedoch auch in "Cloud Atlas" Hinweise auf die Bedeutung vermeintlich kleiner Dinge, die uns letztlich zur unvermeidlichen Kollektivität unseres Handelns zurückführen. Zurück in Europa um 1849 entschließt sich Adam Ewing nicht mehr in die Plantagengeschäfte mit Sklav_innen zu investieren. Empört erinnert ihn sein Vater/Onkel(?) an die "natürliche Ordnung der Dinge", an denen ein "kleiner Tropfen" inmitten eines Ozeans nichts ändern könne. Ewings Gegenfrage - was, wenn nicht eine große Ansammlung kleiner Tropfen, solle denn ein Ozean sein - ist letzlich eine ähnlich positive Vision von in die Zukunft gerichteter kollektiver Verantwortung, wie sie die Politikwissenschaftlerin Iris Young (2006) in ihrem "social connectivity model of responsibility" vertritt. In der Geographie ist es schließlich Doreen Massey, die, vermutlich von ihrer "Politisierung von Raum/Raum-Zeit" (2011 [1992]: 127) ausgehend, zu einer Forderung nach einer Politik der Konnektivität gelangt (Massey 2004), derzufolge Verantwortung nicht nur für die räumlich und sozial Nächsten übernommen werden müsse, sondern auch für anonyme Fremde.
Dies führt zur Auseinandersetzung mit strukturellen Prozessen wie dem anthropogenen Klimawandel oder Armut durch ungerechte Handelsbeziehungen, die durch das kollektive Handeln ausgelöst werden, was eine klassische Schuldzuweisung und Haftbarkeit schwierig macht (Young 2006: 115). In Anlehnung an Young und Massey weisen Jackson et al. (2009: 21), die sich mit den relationalen Verbundenheiten und Abkoppelungen von Konsument_innen zu ihren Nahrungsmitteln beschäftigen, darauf hin, dass alle in die Warenkette Involvierten immer auch an der Produktion von Bedeutung beteiligt sind und somit Verantwortung tragen. Eine Trennung von moralischen und politischen Aspekten in der Wirtschaft, insbesondere im Umgang mit Lebensmitteln, sei daher unhaltbar.
Eine solchen Verantwortungsbegriff möchte ich auch in meiner Dissertation vertreten, in der ich mich damit beschäftigen werde, wie Menschen über ihre Ernährung Verantwortung übernehmen. Ich werde dabei auf der Absicht Harald Lemkes (2012: 18) aufbauen, der uns
"mit einem ungewohnten schlichten Gedanken vertraut […] machen [will]. Und zwar mit der gastrosophischen Erkenntnis, dass das Essen politisch ist. Vielleicht ist gegenwärtig nichts politischer. Gewiss aber ist das Essen politischer als dies vielen lieb ist […] Heute ist eine Revolution der Denkart erforderlich, die unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst aus dem Dogma eines entpolitisierten Ernährungsbewusstseins befreit: Der vorherrschenden Denkgewohnheit, welche uns glauben macht, Essen sei ein rein privates Vergnügen unserer Innerlichkeit, das nichts mit der äußeren Welt zu tun habe. Leider entspricht dies nicht den Tatsachen. Spätestens im Zeitalter des globalen Kapitalismus und dessen weltweiten Wirtschaftsverflechtungen stellt jedes Lebensmittel und jeder Essakt komplexe Beziehungen unter unzähligen Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen und Realitäten her […] Ob wir es wollen oder nicht: Das Essen politisiert uns. Noch die unpolitischste Person kann nicht anders, als politisch agieren, um sich zu ernähren".
Es sind also nicht nur Großtaten, sondern vor allem die vermeintlich kleinen, alltäglichen Dinge wie das Essen, die unsere relationale Wirklichkeit erschaffen und für die Interdependenzen zwischen Menschen sorgen. So machtvoll einige Strukturen sind und so natürlich sie erscheinen mögen, wir haben tatsächlich einen freien Willen, was uns im Rahmen unserer Möglichkeiten, die freilich durch Physik und unser Bewusstsein begrenzt werden, dazu befähigt, aktiv an der Konstruktion unserer relational geteilten Welt mitzuwirken.
Um abschließend noch einmal nach Hollywood zurückzukehren: Der Überwindung der düsteren Perspektive in "Matrix" - wir wissen nicht, ob unsere Wirklichkeit wirklich ist - folgt in "Cloud Atlas" eine recht optimistische Vision: Werden wir aktiv und bewegen uns in die Richtung der Wirklichkeit, in der wir sein wollen! Auch wenn wir nicht allmächtig sind, ohne Einfluss sind wir auch nicht. Für das "wahr-wahr" im "space-space" sind wir also mitverantwortlich.
Referenzen:
Abbott, Edwin A. (1884). Flatland: A Romance of Many Dimensions. 2. Auflage. London.
Foucault, Michel (2008). The birth of biopolitics: lectures at the Collège de France, 1978-79. New York.
Greene, Brian (2012). Die verborgene Wirklichkeit: Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos. München.
Hawking, Stephen; Mlodinow, Leonard (2010). Der große Entwurf: Eine neue Erklärung des Universums. Reinbek bei Hamburg.
Jackson, Peter; Ward, Neil; Russell, Polly (2009). Moral economies of food and geographies of responsibility. In: Transactions of the Institute of British Geographers, 34 (2009), 1, S. 12–24.
Lemke, Harald (2012). Politik des Essens - Wovon die Welt von morgen lebt. Bielefeld.
Massey, Doreen (2004). Geographies of responsibility. In: Geografiska Annaler: Series B, Human Geography, 86 (2004), 1, S. 5–18.
Massey, Doreen (2011 [1992]). Politik und Raum/Zeit (Übers. von Boris Michel; Dieser Beitrag erschien 1992 unter dem Titel „Politics and Space/Time“ in der Zeitschrift New Left Review H. 196). In: Belina, Bernd; Michel, Boris (Hrsg.). Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster, S. 111–132.
Popke, Jeffrey E. (2003). Poststructuralist ethics: subjectivity, responsibility and the space of community. In: Progress in Human Geography, 27 (2003), 3, S. 298–316.
Reuber, Paul; Pfaffenbach, Carmella (2005). Methoden der empirischen Humangeographie. Braunschweig.
Sorli, Amrit; Fiscaletti, Davide; Klinar, Dusan (2010). Time is a measuring system derived from light speed. In: Physics Essays, 23 (2010), 2, S. 330–332.
Sorli, Amrit; Klinar, Dusan; Fiscaletti, Davide (2011). New insights into the special theory of relativity. In: Physics Essays, 24 (2011), 2, S. 313–318.
Stannard, Russell (1989). Grounds for Reasonable Belief. Edinburgh.
Watzlawick, Paul (2009 [1976]). Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. 7. Auflage. München.
Whatmore, Sarah (1997). Dissecting the autonomous self: hybrid categories for a relational ethics. In: Environment and Planning D: Society and Space, 15 (1997), S. 37–53.
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