Das Versagen des Bildungssystems

Das Versagen des Bildungssystems

Charles Nègre, Lesender
Schüler im Freien

Wir haben in den Jahren der neoliberalen Sparagenda so viel über Bildungspolitik gesprochen. Über effizientere Verfahren, zielgerichtetere Bildungsinhalte, über Prüfungsstandards und internationale Vergleiche. Pisa war plötzlich kein schiefer Turm mehr. Es ist komisch, dass ausgerechnet jetzt, da das völlige Versagen der deutschen Bildungspolitik in den sozialen Netzwerken und auf abendlichen Kundgebungen offenbar wird, kein Mucks mehr über Bildung verloren wird. Stattdessen reden wir vom Hass dieser Leute. Dass der mit orthograhischer Heimsuchung und unterirdischer Allgemeinbildung, ohne Punkt und Komma und mit völliger Aufgabe einer halbwegs gesitteten Rechtschreibung, über dieses Land kommt, scheint nur wenige zu stören. Kann es nicht einfach sein, dass es der begrenzte Horizont dieser Leute ist, der nur so hasserfüllt aussieht? Hat man das Schlagwort von den »bildungsfernen Schichten« einfach nur durch den »besorgten Bürger« terminologisch ersetzt?

Es ist schon hart in einer Welt zu leben, die man kaum begreift. Selbst mit Bildung, mit Interesse am Wissbaren ist es ja zuweilen zum Resignieren. Da sind so viele Strömungen, Bewegungen, Dynamiken, geographische Besonderheiten, historische Kontexte, soziale Grundlagen, gesellschaftliche Konventionen, Aberglauben und Religionen, Technologien und Traditionen. Alles kulminiert in dem, was wir als Nachrichten präsentiert bekommen, alles ist vermengt im Tagesgeschäft. Man kann nicht alles immer wissen. Aber wenn man so gar nichts weiß von der Welt, die einem umgibt, dann ist das nicht nur traurig und schauderhaft, es muss vor allem auch richtig hart sein. In einer Matrix zu leben, die undurchdringlich scheint, muss Angst machen. Wahrscheinlich ist der Hass, den man uns jetzt jeden Tag in den Gazetten verkauft, der aus dem Netzwerken sickert und auch im Alltag als solcher Überhand nimmt, nichts weiter, als ein Symptom mangelnder Kenntnisse. Dass man die in schriftlich Absonderungen voller Fehler seiner Umwelt präsentiert, stützt diese These nachhaltig.
Die Politik jammert dieser Tage zuweilen auch über den unerträglichen Hass. Aber wenn der ja nur ein Symptom ist, muss man die Ursache finden und daran arbeiten. Jetzt, genau jetzt ist es an der Zeit, eine Bildungsoffensive zu starten. Endlich eine richtige, eine gegenständliche Bildungsoffensive anzuleiern. Nicht die Stückwerkerei, die man uns vorher als Bildungsgipfel und dergleichen verkaufte und bei denen es letztlich nur um Finanzierbarkeiten und schnellere Abschlüsse ging. Es reicht eben nicht aus, die Bildungsstandards an den Bedürfnissen der Wirtschaft auszurichten. Ein Recht auf Bildung zu haben heißt auch, dass man ein Recht darauf hat, Dinge zu erlernen, die zunächst mal nicht sofort im täglichen Arbeitsrhythmus verwertbar sind. Bildung lässt sich grundsätzlich gar nicht verwerten – man hat sie. Oder eben nicht.
Ein Blick auf das Phänomen, das wir jetzt als »Hass« bezeichnen, sollte doch offenlegen, dass wir nun wieder stärker über Bildung sprechen müssten. Nicht über Sparpotenziale oder Föderalismus, nicht über verkürzte Abschlusswege und kupierte Lerninhalte, sondern darüber, wie man die Menschen fit macht für die Realität, für ein anständiges zwischenmenschliches Miteinander, das auf einer Basis aus Wissen gründet. Haben wir nicht zu viel weggelassen in den Schulen? Zu wenig Geschichtliches, zu wenig Soziales vermittelt? Zu einer umfangreichen Wissensvermittlung gehört mehr als unmittelbar Notwendiges, das man im Alltag in erster Linie braucht. Man muss rechnen können. Lesen wäre auch nicht schlecht. Schreiben sowieso. Aber auch da hapert es schon, wie wir wissen. Doch sind Geschichte, Geographie und soziologische Fächer denn unnötig deswegen? Man klicke in Facebook und Konsorten und man ahnt: Nein, das ist mindestens so wichtig, denn ein Mensch reift nicht am so genannten Notwendigen, lebt nicht vom Brot alleine.

Sicherlich, Bildung ist kein Allheilmittel. Unter allen menschenverachtenden Gruppierungen, die man so kannte und noch kennt, sind immer auch gebildete Leute zu finden. Aber das Heer an Mitläufern wäre doch wohl kleiner, wenn es mehr Menschen gäbe, die gelernt hätten, ihren Verstand zu benutzen, die Wissen als bewusstes Gut in sich tragen würden, das sie auch anwenden können in jeweiligen Situationen. Wissen ist vielleicht nicht Macht, aber Wissen macht nachdenklicher, lähmt ungesunden Aktionismus, der nur um des Aktionismus' willen aktiviert.
Man kann sich jetzt wirklich über den Hass aufregen, kann die hasserfüllten Fratzen anfeinden, sie auslachen in ihrer hilflosen Dummheit – oder man bringt endlich auf den Tisch, was zu solchen Auswüchsen führt: Das Versagen eines Bildungssystems. Das bedeutete gleichwohl, dass über neuen Bildungselan gesprochen werden muss, über ein Rausholen ganzer Gesellschaftsschichten aus der cerebralen Agonie zwischen »Frauentausch« und Bildungsverdrossenheit. Und es dürfen die schulischen Ansprüche nicht beständig nach unten geschraubt werden. Bildung darf ruhig Schweiß kosten. Lerninhalte sollten ruhig auch schwierig sein dürfen. Das Ringen um Wissen ist zuweilen anstrengend.
Unberechenbare Wut ist eben manchmal nichts weiter als die Folge eigener Unzulänglichkeit. Dann regt man sich über die Wütenden auf. Das ist menschlich. Wir sollten uns aber auch über die aufregen, die diese Menschen in diese Situation gebracht haben, sich so unzulänglich zu fühlen. Ein Bildungssystem sollte die Menschen für die Anforderungen des Alltages und des Lebens fit machen. Jetzt sieht man, dass viele Menschen diesbezüglich nicht fit sind. Sie offenbaren eher, dass sie völlig unverständig sind, keinerlei Sensibilität besitzen und an den berühmten Tellerrand stoßen. Wenn diese Gesellschaft jetzt nicht beginnt, Bildung wieder als hohes Gut zu betrachten, dann kommen wir aus der Hassgesellschaft nicht mehr raus. Sollte die Bildung den neoliberalen Vorstellung hingegen entzogen werden, haben wir in zwanzig Jahren vielleicht verständigere Stimmen in den sozialen Netzwerken.

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