Das Vermächtnis der Angela Merkel

Von Stefan Sasse
Es ist schwer vorstellbar, dass Angela Merkel sich mit der gleichen Hingabe der Vermächtnispflege widmet, mit der etwa Schröder und Kohl das getan haben (der eine als Kanzler der Agenda-Reform und des Friedens, der andere als Kanzler der Einheit und Europas). Wenn irgendein Histroriker später schreibt, "sie hat ihren Job gemacht" würde sie sich diesen Satz wohl rahmen lassen. Nur, was auch immer Merkel sich als ihr Vermächtnis vorgestellt hat, und ganz egal wie lange sie noch Kanzlerin bleiben wird, der Umgang mit der großen Finanz- und Eurokrise wird zumindest einen wesentlichen Teil dessen ausmachen, an das man sich später erinnern wird, wenn die Rede auf ihre Kanzlerschaft kommt. Und das vermutlich nicht in positivem Sinne. Denn was Merkel bisher bereits in schier atemberaubenden Tempo gelungen ist ist nicht weniger als eine Vollbremsung im Prozess der europäischen Integration und eine Umkehrung der Tendenz, die uns den europäischen Frieden für über 50 Jahre bewahrt hat. Angela Merkel - und die schwarz-gelbe Regierung, das sollte man nicht vergessen - sind europafeindlicher und zerstörerischer gegenüber diesem Projekt, als es die LINKE je hätte werden können, wenn sie eine komplette Umstrukturierung der EU fordert. 
Oh, bevor sich jemand fragt: das findet seinen Ausdruck nicht per se in den Maßnahmen der Regierung, in ihrer Nutzung der europäischen Institutionen oder dem Umgang mit dem Vertrag von Lissabon. Es ist mehr eine Geisteshaltung, eine Mentalität. Wer auf die Idee kommt, dass so etwas angesichts der Bürokratisierung der EU und dem Vormarsch der Technokraten nichts zählt, der sollte einen Blick nach Griechenland auf die dortigen Proteste werfen, oder in Zeitungen außerhalb Deutschlands blicken. Alle Welt schaut derzeit auf unser Land, und was zu sehen ist lässt Beobachter fassungslos zurück. Hier geht es nicht einmal um die Frage, ob die aktuelle Politik ökonomisch richtig oder falsch ist (obwohl ich der Meinung bin, sie sei falsch). Der Umgang mit der Krise in Europa hat eine politische Dimension, die von der Politik und der mit dieser Politik verbundenen Medien hartnäckig geleugnet wird. Die Frage ist nicht einfach nur, wie man ausgeglichene Haushalte für Länder wie Griechenland oder Italien bewerkstelligt, oder wie es vielleicht gelingen könnte, die deutsche Außehandelsbilanz auszugleichen. Die Frage ist, was die Europäische Union eigentlich sein soll. Ohne dass es einer der Beteiligten wirklich verstanden hätte, ist Deutschland ins britische Lager übergewechselt, das die Union als eine manchmal willkommene Freihandelszone ansieht, die eigentlich die meiste Zeit ein Klotz am Bein ist. Zwar sind die daran gehängten Sentimentalitäten andere, weswegen sich Deutsche und Briten weiter in den Haaren liegen, aber eigentlich sind sie sich näher als es scheint. Und das ist dramatisch, denn bislang lebte die EU von einem merkwürdigen Kompromiss: Deutschland tut so, als sei es nicht die stärkste Macht in der EU und überlässt diese Rolle Frankreich, das sich als regionale Großmacht aufspielt. Beide ziehen daraufhin die EU voran und können dabei für sie teilweise auch unvorteilhafte Sachen tun; die einen, weil sie sich eine Aura falscher Bescheidenheit zugelegt haben, die anderen, weil sie sich als großzügige Großmacht gerieren können. Dieser Kompromiss aber ist aufgekündigt. Angela Merkel erlaubt es Sarkozy nicht mehr, den Brüsseler Sonnenkönig zu spielen. Sie hat auch die falsche Bescheidenheit abgelegt, die allen Beteiligten die Illusion erlaubte, Deutschland sei gar nicht so stark. 
Aber an die Stelle ist nichts getreten, es ist ein Vakuum entstanden. Der Kaiser steht nackt da, hat keine Kleider mehr, aber Deutschland, das sie ihm vom Körper gerissen hat, steht jetzt daneben und wundert sich mit allen anderen, warum der Knabe nackt ist, anstatt schnellstens den Schneider zu rufen. Denn letztlich kann nur Deutschland eine aktive Führungsrolle in der Union ausüben. Das ist allen anderen Ländern klar, deswegen sehen sie ja ständig herüber - meistens ängstlich. Aber Deutschland ist unwirsch. Was wollt ihr von uns, ist die Botschaft Merkels. Sie benimmt sich, als sei sie Kanzlerin von Luxemburg, nicht von Deutschland. Dabei könnte Deutschland in einer echten, selbstlosen Geste tatsächlich eine Art Führerschaft übernehmen. Kohl hätte die Gelegenheit ergriffen, deutsche Steuermilliarden in die Hand genommen und damit den nächsten Schritt der politischen Integration durchgeführt. Schröder hätte eine Männerfreundschaft mit Sarkozy inszeniert. Merkel inszeniert nichts. Was sie tut verbreitet den Eindruck, als ob Deutschland eine Insel wäre. Deutsche Politik hat gewissermaßen keine Einflüsse auf andere. Interdependenzen existieren nicht. Deutsche Politik endet exakt an den Landesgrenzen. Diese Geisteshaltung scheint weite Teile des "bürgerlichen Lagers" ergriffen zu haben. Sie ist unglaublich gefährlich, denn deutsche Politik bestimmt gerade die Zukunft der EU. Dass sich die deutsche Politik überhaupt nicht mit der Zukunft der EU beschäftigt, bedeutet nicht etwa, dass sie auf dem aktuellen Stand eingefroren wird. Es bedeutet, dass die EU keine Zukunft hat. Das haben alle begriffen. Außer den Deutschen.

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