Der Erfahrungsbericht meiner guten Freundin, Aziza S. (Teil 1)
In Europa war alles anders.
Frauen tragen hier Hosen, dürfen zur Schule gehen und arbeiten. Sie müssen nicht im Mädchenalter einen Mann heiraten, der ihr Vater sein könnte, und Kinder bekommen, bevor ihr Körper dazu bereit ist. Sie dürfen selbst bestimmen, was sie zu ihrer Lebensaufgabe machen, und sie werden nicht beschnitten oder verstümmelt.
Sie sind frei!
Ich arbeitete bei einer Familie als Haushälterin und Nanny. Ich erlernte die Sprache und das Lesen in kurzer Zeit und verschlang jedes Buch, das ich im Haus fand. In kürzester Zeit brachte ich mir selbst Mathe bei und eignete mir Wissen über Geschichte an.
Als ich dann schliesslich volljährig war, konnte ich mich glücklicherweise von diesem Verhältnis befreien. Ich hatte im Laufe der Jahre einige Leute aus der Nachbarschaft kennengelernt, denen ich immer als Verwandte vorgestellt wurde. So gewann ich heimlich eine gute Freundin, der ich mich eines Tages anvertraute. Es war eine ältere Frau aus der Nachbarschaft. Als ich 18 war, adoptierte sie mich.
Dies war der Beginn eines neuen Lebens.
Der Wandel meines Lebens hat meine Sicht auf die Frau um hundertachtzig Grad gedreht.
Wenn ich jetzt an mein früheres Leben denke, dann kommt es mir vor wie das eines anderen Menschen.
Nichts in der Wahrnehmung meiner Person als Frau ist mit den Grundlagen in meinem Herkunftsland zu vergleichen.
Ich habe hier Rechte. Ich habe das Recht, zu meiner Meinung zu stehen, nicht zu schweigen und meinen Willen zu äussern. Ich habe das Recht und die Möglichkeit, eine gebildete Frau zu sein und meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich habe das Recht über meinen eigenen Körper zu bestimmen.
Wenn mir danach ist, etwas zu tun, dann ist es MEINE Entscheidung, ob und wie ich es tun möchte.
Wenn ich nun an meine Zwillingsschwester denke, die genau das Gegenteil dessen lebt von dem, was ich hier meinen Alltag nennen darf, dann kommt mir nichts auf der Welt fremder vor.
Kein Recht auf Selbstbestimmung, keine Bildung, leben nach den Regeln anderer und dies für selbstverständlich halten. Man kennt nichts anderes und hat keine Wahl.
Wir beide, aus dem gleichen Ei entsprungen, leben in zwei anderen Welten und doch auf dem selben Planeten. Unterschiedlicher könnte unsere Situation nicht sein. Und doch könnte ich genau so gut an ihrer und sie an meiner Stelle stehen.
Ist es normal, dass man gleiche Voraussetzungen hat, nämlich Frau zu sein, aber unter so unterschiedlichen Bedingungen zu leben hat?
Sollte es denn eine Rolle spielen, auf welchem Flecken dieser Welt man auf die Welt kommt, um sein Schicksal zu schreiben? Welcher Religion, welchen Bräuchen man untergeordnet ist?
Ein Mensch bleibt ein Mensch und jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung, Nahrung, Gesundheit und Sicherheit.
Wenn Mädchensein tot, krank, dumm und hungrig sein heisst, dann müssen wir uns zusammenraffen und gemeinsam dafür kämpfen, dass jedes Mädchen und jede Frau die gleichen Rechte wie ein Junge oder ein Mann hat.
Es ist höchste Zeit, dass jeder Mensch sein Leben selbst in die Hand nehmen darf und nach seinen Rechten leben kann!
Zur Aktion “92 Tage für Mädchen”
Mit der Aktion “92 Tage für Mädchen” fordern engagierte Frauen und Mädchen aus der Schweiz gemeinsam mit Plan: “Bildung und Schutz für Mädchen weltweit!” Vom 12. Juli 2013, dem Geburtstag der pakistanischen Bloggerin und Aktivistin für Mädchenrechte Malala Yousafzai, bis zum 11. Oktober, dem internationalen Mädchentag, werden jeden zweiten Tag künstlerische Beiträge zur Situation der Mädchen weltweit auf www.plan-schweiz.ch/92tage publiziert, die aufrütteln, berühren, beflügeln – und zur Mithilfe aufrufen.
Die Aktion endet am 11. Oktober 2013 – dem internationalen Mädchentag – mit einem Anlass für Gross und Klein auf dem Berner Bundesplatz.“