„Als die Russen da waren, mussten wir jungen Mädel uns wie alte Frauen verkleiden“, diesen Satz habe ich noch gut im Ohr. Er kam von meiner Tante, als sie mir, einem Mädchen von 6 bis 10 Jahren, so genau kann ich mich an den Zeitpunkt nicht mehr erinnern, Geschichten aus dem Krieg erzählte. Ich weiß noch, dass ich damals darüber eher belustigt war und mich insgeheim fragte, wie das denn gehen solle, sich glaubhaft als alte Frau zu verkleiden und ob denn die russischen Männer wirklich so blöd gewesen waren, die Verkleidungen nicht als solche zu erkennen. Viel mehr habe ich damals als Kind noch nicht überlegt. Und zu fragen, traute ich mich auch nicht wirklich. Erst später wurde mir langsam bewusst, warum die jungen Frauen und Mädchen damals solche Angst hatten.
Um zu erfahren, was jedoch wirklich damit gemeint war, die ganze abscheuliche Brutalität, die ein Krieg mit einer Besatzungsmacht vor allem für Frauen mit sich bringt, musste ich nun, Jahrzehnte später, ins Theater Brett gehen. Zur Vorstellung von „Frau an der Front“, einer dramatisierten Fassung des Romans von Alaine Polcz. Der erst nach der Wende, 1991 erschienene Roman der gebürtigen Siebenbürgerin, offenbart schonungslos die sexuellen Misshandlungen, die Polcz selbst in der Kriegszeit in Ungarn erlebte. Und er zeigt, man weiß nicht was schlimmer ist, auch die Passivität jener auf, die davon Kenntnis hatten und nicht einschritten.
Der junge Ungar András Léner, ein in seiner Heimat mehrfach ausgezeichneter Regisseur, schuf in seiner zweiten Produktion für das Theater Brett eine unglaublich einfühlsame und publikumszugewandte Inszenierung. Äußerst kluge, meist unvorhersehbare und deswegen verblüffende Ideen, die fast immer mit einem dramatischen Lichtwechsel einhergehen, takten das Ein-Personen-Stück. Nika Brettschneider, Hausherrin des Theater Brett, schlüpfte in die Rolle von Alaine Polcz, die ihre Erlebnisse direkt dem Publikum erzählt. Dafür marschiert sie mit den Zuseherinnen und Zusehern sogar vom Foyer in den Theatersaal, nimmt wie dieses an einem der vorgesehenen Publikumssitze Platz, um dann wie beiläufig mit ihrem Monolog zu beginnen. Brettschneider agiert dabei ohne große Dramatik, ohne ausladende Gesten. Scheinbar ruhig und mit dem Abstand von vielen Jahrzehnten berichtet sie über die Heirat mit Janós, einem Mann, der aufgrund seiner Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg zu einem Schweiger und Zyniker geworden war. In der Dramatisierung, die ebenfalls András Léner vornahm, schildert Polcz die Einsamkeit in ihrer Ehe genauso wie den Besuch beim Gynäkologen, der ihr sagt, dass sie mit Gonorrhöe angesteckt wurde. Die naive, junge Frau lässt sich von Janós sogar einreden, dass sie sich diese Krankheit auf einer Toilette geholt hätte, aber bald schon kommt es zu einem seelischen Bruch zwischen den beiden. Dennoch bleibt Polcz bei ihrem Mann.
Man beginnt Mitleid mit der jungen Frau zu bekommen, ohne zu ahnen, dass ihr die schwerste Zeit in ihrem Leben noch bevorsteht. Der Zweite Weltkrieg, der die Menschen in Siebenbürgen mit dem Einmarsch der Deutschen erreicht, bringt eine dramatische Wende mit sich. Die anfangs noch unbehelligte Bevölkerung erleidet ihren ersten Schock angesichts der Judendeportationen, die in Ungarn und in Siebenbürgen nicht anders als in Deutschland oder Österreich abliefen. „Sie winkte mir und rief noch „Auf Wiedersehen“, erinnert sich die jung verheiratete Frau an das Adieu einer jüdischen Nachbarin in Klausenburg (damals Kolozsvár, heute Cluj). Ein Abschied, der sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis einbrannte. Nach der Bombardierung ihrer Stadt rettete sich Polcz mit ihrem Mann zu dessen Mutter auf das Esterházy-Schloss Csákvár. In dem unter dem Schutz des Schweizer Roten Kreuz` stehenden Hauses war die Schwiegermutter von Polcz Haushälterin. Sie wird ihr schließlich zur Vertrauten, zur einzigen Person, die sie auch ohne viele Worte versteht. Und sie, Mami, wird es auch sein, die nach der Schändung ihrer Schwiegertochter ihren Glauben verliert. Beten hat Alaine die alte Frau nie mehr gesehen.
Zu diesen schrecklichen Ereignissen kommt es unter der russischen Besatzung. Brettschneider ist während ihrer Erzählung mit dem Publikum ständig auf Tuchfühlung. Setzt oder stellt sich vor den einen oder die andere, zeigt alte Bilder vom Schloss, von der Schwiegermutter und nimmt häufig Blickkontakt auf. Es gibt keine Chance, abzuschalten und dem ruhigen Redefluss nicht zuzuhören. Von Frauen, deren Rückgrat bei den Vergewaltigungen gebrochen wurde, ist da die Rede. Von den eigenen Schockerlebnissen, die ihr einen geschundenen Körper einbrachten. Von den Bitten, um eine Matratze oder andere Vergünstigungen, die allesamt mit Sex abgegolten werden mussten. Yvette Kovács benötigt für ihr Bühnenbild nicht viel mehr als eine Kommode, einen Tisch und einen zentral platzierten Stuhl auf einem kleinen Podest. Das raffinierte Lichtdesign von Andreas Zemann unterstützt die Szenenwechsel und die unterschiedlichen Gefühlsebenen perfekt.
Die Autorin Alaine Polcz wurde nach dem Krieg zur Psychotherapeutin ausgebildet und war in Ungarn nicht nur bekannt, sondern sehr beliebt. Man fragt sich, wie ein Mensch, der einen solchen Leidensweg gehen musste, das Leben danach noch meistern kann. Polcz konnte und wurde zu einer gefragten Spezialistin im Bereich von Todeserfahrungen. Ihr Buch löste bei seiner Erscheinung in Ungarn eine Welle des Entsetzens aus, so als ob niemand von den Gräueltaten während des Krieges etwas gewusst haben wollte.
Die Projektion des jungen Mädchengesichts auf eine beige, halblange Frauenjacke, die von Beginn an zu sehen ist, verändert sich in den letzten Minuten und zeigt das Antlitz von Brettschneider. Eine poetische Metapher dafür, dass wir alle unsere eigene Vergangenheit in uns tragen und ihr bis ans Lebensende nicht entkommen.
Der entscheidende Impuls zu dem Stück kam vom Regisseur selbst, der damit auf ein Kapitel in der Weltgeschichte verweist, das auch heute noch vielen gar nicht bewusst ist. Mit dem letzten Satz von Polcz charakterisiert sie ihre Sicht auf das Geschehen als „ein privates Fresko, an die Mauern der Weltgeschichte gepinselt“. Die große Tragik daran ist, dass es ein Geschehen war, das Hunderttausende, wenn nicht sogar mehr Frauen betraf. Frauen, die ähnliche Erlebnisse ihr Leben lang meist stumm mit sich trugen. Die Aufarbeitung dieser Kriegsverbrechen, die, wie schon erwähnt, zuerst in Ungarn durch das Buch von Polcz ausgelöst wurde, kam in Deutschland erst im vorigen Jahr mit einer anderen Veröffentlichung von Miriam Gebhardt so richtig in Fahrt.
„Frau an der Front“ wird noch bis 27.2. gespielt. Termine auf der Internetseite des Theater Brett.