Das Tier ist wieder eingesperrt (1)

Von Betker

„The Animal – das Tier“ war der Kampfname, unter dem Frank Fletcher berühmt wurde. Anfang der 80er Jahre elektrisierte er im Mittelgewicht mit seinen Ringschlachten das Publikum. Gewalt war aber nicht nur im Ring, sondern sie war auch in seinem Leben ein zentraler Bestandteil. Man sperrte das Tier dann auch fast sein ganzes Leben in einen Käfig. Auch heute ist er wieder in einem Käfig eingesperrt. Der ehemalige Profiboxer verbüßt eine 25-jährige Haftstrafe.
Franklin Montagues Fletcher hatte nicht darum gebeten, am 07. Mai 1954 in Philadelphia ins Leben geworfen zu werden. Er wuchs zusammen mit sieben Geschwistern auf. Seine Eltern waren beide Alkoholiker und lebten immer wieder getrennt voneinander. Seine Mutter war die erste, die Franklin einsperrte – in den Keller. Sie schlug ihn und zerschnitt ihm mit einem Rasiermesser die Nase. Die Narbe ist noch heute deutlich sichtbar. Aktenkundig ist, dass seine Mutter ihn mehrfach mit schweren Gegenständen, wie Knüppeln oder Rohren, schlug. „Ich liebe sie“, sagt Fletcher über seine Mutter, „und ich glaube, sie liebt mich auch.“
Der kleine Franklin wehrte sich gegen die ihn umgebenden Lebensumstände durch Kriminalität: Stehlen, Autosaufbrechen und einigem anderen. Hinzu kam seine kaum zu bändigende Aggressivität. Schon als Kind und Jugendlicher trug er Konflikte mit den Fäusten aus, auch gegenüber Erwachsenen. Bereits mit acht Jahren wurde er das erste Mal verhaftet. Es folgten bis zu seiner Volljährigkeit 16 weitere Verhaftungen. Die Behörden sperrten Franklin, das wilde Tier, immer wieder in Käfige, nur dass man sie Heime, Besserungsanstalten, Jugendgefängnisse und Gefängnisse nannte. Die wenige Zeit, die er als Jugendlicher in Freiheit verbrachte, war immer nur Zwischenstation und endete in einem anderen Käfigen.
Mit 21 Jahren wurde Fletcher auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Er wurde entlassen ohne Schulabschluss – praktisch als Analphabet – und ohne Berufsausbildung. Aber auf den Straßen, in den Erziehungsheimen und auf den Gefängnishöfen hat er das Kämpfen gelernt. Damit wollte er nun Geld verdienen. Vorher hatte er, während seiner kurzen Aufenthalte in Freiheit, 15 Kämpfe als Amateur bestritten, von denen er nur zwei verloren hatte.
„Ich liebte es zu kämpfen,“ sagt Fletcher heute. „Als ich 1979 aus dem Gefängnis entlassen wurde, wollte ich Profi werden. Ich wollte es den Leuten zeigen. Alles, was ich von meiner Mutter hörte, war: Aus dir wird niemals etwas werden! Du wirst jemanden umbringen und dann lebenslänglich im Gefängnis sitzen! Eine Frau wird dich töten, während du schläfst, weil du ihr wehgetan hast!“
Er kämpfte im Ring, wie man es von einem Tier erwarten konnte. Er war von einer unglaublichen Härte gegen sich und andere, und er war willens, auch die größten Schmerzen zu ertragen, um den Sieg zu erringen. Er war kein Techniker. Nahezu ohne Deckung ging er auf seine Gegner los und schlug auf sie ein. Wenn er selbst getroffen wurde, schlug er umso härter zurück. Er war ein Fighter im wahrsten Wortsinn. Fletcher nennt das: „Verfolgen und Zerstören.“
„Eines Tages boxte ich gegen einen harten weißen Jungen in Marty Feldmans Gym“, erzählt Fletcher, „während mein Bruder Anthony [ein sehr guter Leichtgewichtler] mit Herrn Feldman zusah. Niemand hatte diesem Jungen vorher eines auf die Nase gegeben. Mein Bruder sagte zu Herrn Feldman: „Sieh dir dieses Tier an, wie er diesen Kerl verdrischt.“ So kam er zu seinem Spitznamen: The Animal – das Tier. „Ich wollte, dass man mich Frank The Animal Fletcher nennt, weil der Name hat einen Klang und ist wie gemacht für einen Mann, der Geschichte schreibt.“
Seinen ersten Kampf als Preisboxer bestritt Fletcher am 07. Oktober 1976 in Allentown. Er gewann nach Punkten. Es sah alles danach aus, als sollte das Jahr 1980 das große Jahr für das Tier werden. Boxen rückte in diesem Jahr durch einen Streik der Baseballliga ins Blickfeld der Medien. Der TV-Sender ESPN stieg ins Boxgeschäft ein und veranstaltete ein Turnier für junge, aufstrebende Boxer der verschiedenen Gewichtsklassen. Dem Sieger wurde ein Kampf gegen einen Boxer unter den ersten Zehn der Weltrangliste versprochen. Das bedeutete aber soviel, dass der Sieger des letzten Finalkampfes damit automatisch unter die ersten Zehn der Rangliste vorrückte.
Fletcher stieß in letzter Minute als Ersatzmann zum Turnier – er kam wieder einmal aus dem Gefängnis. Nach Punktsiegen über Ben Sarrano (10. April 1980) und Jerome Jackson (08. Juni 1980) traf er am 03. Juli 1980 in Atlantic City auf William „The Kronk’s Caveman“ Lee. „Sein Vater sagte meiner Mutter, was sein Sohn mit mir in zwei Runden machen wollte,“ erzählt Fletcher. „Meine wunderbare Mutter und mein Bruder sagten ihm, dass er nicht darauf wetten sollte.“ So kam es dann auch. Fletcher gewann durch TKO in Runde vier. Es folgte der TKO-Sieg in Runde sieben über Randy Mc Grady am 04. September 1980. Mit diesem Sieg hatte er dann das Turnier gewonnen.
Sein nächster Kampf war gegen den Top-Ten-Fighter Sammy Nesmith aus Indianapolis, den er auch durch TKO besiegte, diesmal in Runde 6. Durch die TV-Übertragungen war das Tier unglaublich populär geworden. Das Publikum liebte ihn. Seine Börsen waren höher als die einiger Weltmeister. Aber er gab das Geld schneller aus als er es einnahm, und ein Weltmeisterschaftskampf kam einfach nicht. Die Platzierung in der Weltrangliste bedeutete nämlich noch lange nicht, dass der amtierende Weltmeister Alan Minter aus Großbritannien auch das Bedürfnis verspürt hätte, gegen Fletcher anzutreten. Daher musste er sich mit einem Kampf um den US-amerikanischen Mittelgewichtstitel begnügen. Er traf am 31. August 1981 auf Ernie Singletary und gewann durch TKO in Runde acht. Der Kampf war brutal und sehr schmerzhaft für ihn. Sein Gegner stieß ihm in der ersten Runde den Daumen ins rechte Auge. Nach dem Kampf ging Fletcher ins Krankenhaus, um sich untersuchen zu lassen. Die Ärzte stellten nichts Ungewöhnliches fest. Wenige Stunden später brach er in seinem Hotelzimmer zusammen. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, wo man eine Schwellung des Gehirns feststellte. Er entging nur sehr knapp dem Tod. Der Preis für den Titel des amerikanischen Meisters im Mittelgewicht war sehr hoch, denn seitdem ist er auf dem rechten Auge blind. Erst nach Ende seiner Karriere als Boxer ließ er sich eine Kontaktlinse implantieren.
Gegner in seiner ersten Titelverteidigung am 28. Februar 1982 war ein alter Bekannter: Tony Braxton. Braxton hatte 1979 zweimal nach Punkten gegen Fletcher gewonnen, der glaubte, in den ersten beiden Kämpfen um den Sieg betrogen worden zu sein. „Ich erinnerte mich, wie sie mich bei den ersten beiden Malen beraubt hatten, und ich war nicht bereit, mich dieses Mal von irgendjemandem berauben zu lassen“, sagt Fletcher. Diesmal gewann er nach Punkten. Danach verteidigte er am 20. Juni 1982 erfolgreich seinen Titel durch einen Punktsieg über Clint Jackson.
Am 16. Oktober 1982 stieg Fletcher im Sands Hotel in Atlantic City wieder in den Ring, um seinen Titel zu verteidigen. „James Green war ein harter Puncher.“ Direkt am Anfang der ersten Runde wurde er niedergeschlagen. Aber immer wenn er hart getroffen oder angeschlagen war, wurde das Tier noch gefährlicher: Er richtete sich auf, lächelte „Hard Rock“ Green an und zwang ihm einen Schlagabtausch auf. In der sechsten Runde hatte Fletcher seinen Gegner ermüdet und in einer Ecke gestellt, wo er dann ohne Unterbrechung 94-mal auf sein Opfer eindrosch, bevor der Ringrichter, Franc Capuccino, den Kampf stoppte.
© Uwe Betker