Das System ist nicht kaputt!

Von Stefan Sasse

Allerorten hört man, dass die Krise das Scheitern des Systems offenbar gemacht habe, dass man sie als Chance begreifen müsse, endlich Schluss und reinen Tisch zu machen. Das System gehöre grundlegend reformiert, sei nicht tragfähig. Manchmal schimmert dann verhaltener Optimismus durch, manchmal reicht es nur zu der pessimistischen Prognose, dass das nicht passieren und die nächste, schlimmere Krise deswegen bereits ihre Schatten werfe. Aber was ist überhaupt "das System", das da kaputt ist? Welches System hat versagt? Und was muss sich ändern? Letztlich reden wir ja von zwei parallel existierenden und miteinander verwobenen Systemen: einmal der parlamentarischen Parteiendemokratie, einmal von der vom Staat begrenzten Marktwirtschaft. Ich wage die These, dass keines dieser beiden Systeme so grundlegend versagt hätte, dass es einer Abschaffung oder Totalüberholung bedürfen würde. Dass sie allerdings einen kapitalen Bock geschossen haben, steht außer Frage. 

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Photo:Wolfgang Staudt

Werfen wir zuerst einen Blick auf die Fehler des marktwirtschaftlichen Systems. Die Deregulierung der Finanzmärkte seit den 1980er Jahren war offensichtlich ein riesiger Fehler, und die Unterordnung der Realwirtschaft unter deren Bedürfnisse der zweite. Für den ersten Fehler ist noch die Politik verantwortlich, den zweiten Fehler haben die Manager und Unternehmer ganz alleine hinbekommen, auch wenn sich die Politik nicht gerade übertriebenen Enthusiasmus beim Aufhalten dieser Entwicklung vorwerfen lassen muss; teilweise wurde sie gar nach Kräften gefördert. Die Geschwindigkeit dieser Deregulierung wurde noch zweimal angezogen; einmal 1995 mit der Gründung der WTO und einmal im Dot-Com-Boom der Jahrtausend-Wende. Dies ist nicht der Ort, um noch einmal detailliert alle Krisenentwicklungen aufzuzeigen, und für die gestellte Frage ist es auch müßig. Wäre es nicht der amerikanische Immobilienmarkt gewesen, dann irgendetwas anderes, wenn nicht die Euro-Krise, dann vielleicht eine Dollarkrise - die Ereignisse sind prinzipiell Symptome, nicht Ursachen. 


Worin liegen andererseits die Fehler des parlamentarischen Systems? Hier ist es schwieriger, direkte Fehler zu attestieren. Ebenfalls seit den 1980er Jahren ist der Integrationsprozess der Länder weltweit deutlich vorangeschritten, besonders in der EU. In weit stärkerem Ausmaß als früher bestimmen detaillierte und langfristige Verträge die Politik und können kaum mehr beeinflusst werden. Das Ausmaß, in dem solche Verträge abgeschlossen wurden (Stichwort PPP) ist sicherlich überzogen worden, aber die enge Verflechtung der Wirtschaftsräume weltweit machte ein Ausmaß an neuer Regulierung erforderlich, das im öffentlichen Bewusstsein immer noch kaum vorhanden ist. Brüssel ist für die EU-Mitglieder die Hauptlegislative, aber immer noch konzentriert sich die nationale politische Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die Parlamente. Das deutsche Parlament hat es seit Gerhard Schröder, der seine Politik noch meisterhaft zu verkaufen verstand geschafft, sich in Ausschüssen und Kompromissen so vollständig zu verlieren, dass die Unterschiede zwischen den Parteien kaum mehr erkennbar sind und der Ausgleich statt dem Streit zur höchsten Tugend wurde. Hier fußt die mangelnde Veränderungsbereitschaft und der Hang zum Weiter So.

 
Trotzdem sind beide Systeme nicht kaputt, nicht unrettbar verloren und müssen nicht grundlegend reformiert werden. Dass bei  Wahlen inzwischen kaum mehr eine ernsthafte Alternative zur Wahl steht ist ja nicht die Schuld des Systems sondern derjenigen, die sich zur Wahl stellen und der derjenigen, die sie trotzdem wählen und abgesehen von gelegentlichem Meckern auch nicht bereit sind, etwas daran zu ändern. Dass der Finanzsektor außer Kontrolle geraten ist lässt sich auf eine politische Entscheidung zurückführen, und trotz aller Rhetorik von der Nutzlosigkeit nationaler Alleingänge lässt er sich auch mit einer politischen Entscheidung wieder kontrollieren. Allein, die Folgen sind unabsehbar und das Risiko so hoch, dass sich kaum jemand der Herausforderung stellen will - und hier sind die mannigfaltigen Hindernisse wie das massive Bankenlobbying noch gar nicht eingepreist. 
Die Veränderung muss deswegen an drei Fronten erfolgen, die glücklicherweise Stück für Stück angegangen werden können: der medialen Vermittlung von Politik, dem Stattfinden von Politik und schließlich der aktiven Ausgestaltung von Politik.


Das Vermitteln von Politik ist ein hochaktuelles Problem. In den medialen Darstellungen findet sie kaum mehr statt, um Inhalte geht es praktisch nie. Stattdessen wird ständig und ausdauernd über die beteiligten Personen berichtet; von Ernsts Porsche bis zu Seehofers Frauen. Um Politik geht es dabei nicht, die supranationalen Institutionen kommen kaum vor. Dabei wäre es notwendiger denn je, über diese Geschehnisse informiert zu sein. Was es deswegen braucht ist ein neuer Politjournalismus, der in der Lage ist, Geschehnisse begreiflich zu machen anstatt Agenturmeldungen abzuschreiben und der auch Meinungen anbietet. Es ist keine Schande, einer Seite mehr zuzuneigen als einer anderen, sofern es für alle Seiten Vertreter gibt, ja, es hilft der Debatte deutlich mehr als wenn man in jeder Zeitschrift den gleichen Agenturtext liest. Allein, solcher Journalismus kostet Geld und wird bisher vom Kunden kaum gouttiert. Das Problem erleben Blogs im Kleinen - lange, komplizierte Texte werden kaum geflattert, kurze Rants dagegen deutlich mehr - und die Medien im Großen, wo der Boulevard, nicht der investigative Journalismus, große Verkaufserfolge feiert. Die Änderung muss auch und wahrscheinlich vor allem in der Nachfrage erfolgen, ehe das Angebot sich ändern kann.

 
Das Stattfinden von Politik, also das Herauszerren der Geschehnisse aus den Hinterzimmern der Vermittlungsausschüsse und faulen Kompromisse in Straßburger Gaststätten, würde durch einen solchen Journalismus, der wieder mehr Gewicht auf tatsächliche Ereignisse und Informationen legt, sicherlich befeuert. Zum Stattfinden von Politik gehört auch ihr Verkaufen und Vertreten. Westerwelle ist ja auch deswegen eine so geeignete Hassfigur, weil er für etwas steht - Steuersenkungen und Sozialleistungssenkungen nämlich. Deswegen kann man ihn auch bewundern. Aber für was will man Merkel lieben oder bewundern, wo bei ihr anecken? Oder Steinmeier? Welche Positionen vertritt Trittin, und weshalb ist Klaus Ernst geeigneter LINKE-Parteichef? Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Die Parteien brauchen wieder Profile, sie müssen Visionen anbieten, die über den Tag hinausreichen, eine Vorstellung von der Gesellschaft haben, wie sie ihrer Meinung nach aussehen soll. Viel mehr als ein Weiter So bietet aber derzeit keine von ihnen. Nur ein solches Stattfinden von Politik aber kann die Menschen wieder interessieren und kann Streits über die richtige Richtung hervorrufen, und machen wir uns nichts vor: Streits über den einzuschlagenden Weg sind der Treib- und Schmierstoff der Demokratie, nicht der Allparteienkompromiss.  Sind diese beiden Voraussetzungen gegeben, kann man sich auch wieder an die aktive Gestaltung von Politik machen. Derzeit herrscht die Vorstellung vor, dass die Politik machtlos sei, gefangen zwischen Sachzwängen von außen und dieser Naturkraft Globalisierung. Das ist Unsinn. Die Politik hat sich selbst gefesselt und ihrer Möglichkeiten beraubt, und sie besitzt immer noch alle Handlungsspielräume, wenn sie nur will. Ob es sinnvoll ist, sie auch auszureizen ist eine andere Frage. Aber diese Frage muss diskutiert werden, abgewogen und vielleicht auch einfach einmal gewagt. Das demokratisch-parlamentarische System erlaubt viele Fehler, aber es erlaubt auch das Rückgängigmachen von Fehlern und das Ausprobieren. Der Streit und der anschließende Kompromiss garantieren, dass die Fehler nie tödlich werden. Dies sind elementare Vorzüge dieses Systems, die von der Krise nicht auch nur im Geringsten angekratzt wurden.  Wenn diese Schritte erfüllt werden, sind die Probleme lösbar. Alle diese Schritte lassen sich ohne Probleme im bestehenden System ausführen. Sie werden zu keinen radikalen Lösungen führen. Radikale Lösungen vertragen sich nicht mit Demokratie, sie sind Treibstoff und Revolutionen und Diktaturen, und von denen bleiben wir hoffentlich verschont. Das System ist nicht kaputt. Es ist in eine Sackgasse gefahren. Aber was spricht dagegen, zu wenden und einen anderen Weg zum Ziel zu suchen?

Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Blog-Karneval von “Der Kongress bloggt!”


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