Das späte Schulddenken

Amazonas – Tilt! + Amazonas – A Queda do céu!

Amazonas a queda do ceu im Musuemsquartier - Netzzeit

Amazonas a queda do ceu (Foto Regine Körner – Münchner Biennale)

Ein dunkler, langgestreckter Bühnenraum empfängt das Publikum. Kein Bühnenbild, das ersichtlich wird, lenkt die Gedanken ab. Einzig das Ensemble piano possibile, das rechts von der Bühne Aufstellung genommen hat, bietet einen Anhaltspunkt auf Kommendes: Auf zeitgenössisches Musiktheater mit dem Titel „Amazonas Tilt!“ Der darin verwendete Text von Roland Quitt basiert auf dem Reisebericht von Sir Walter Raleigh, der 1595 aufgebrochen war, den Orinoko zu erkunden. Seine Schriften geben frühe Einblicke in den Beginn der Kolonialisierung, in das Verständnis der Europäer, erstbereistes Land im Namen der jeweiligen Herrscher als Eigentum derselben zu erklären. Angetrieben von der Suche nach El Dorado verlieren die Entdecker jegliche Empathie und setzen sich von Beginn des Zusammentreffens mit den Eingeborenen wie selbstverständlich über sie hinweg. Vom Geschichtsunterricht her ist uns das Geschehen im Groben bekannt. Auch seine Auswirkungen bis auf den heutigen Tag. Was an diesem Abend jedoch an Erfahrungswert hinzukommt, ist nicht nur der kraftvollen Musik von Klaus Schedl zu verdanken. Auch die dichte, auf den Punkt gebrachte Regie von Michael Scheidl tut ein Übriges, um das längst vergangene Geschehen wachzurufend und – was schwerer wiegt – ein Gefühl von Betroffenheit zu hinterlassen. Das gelingt vor allem durch eine sehr intelligente Visualisierung von Sir Walter Raleigh, der an diesem Abend gleich in drei Persönlichkeiten aufgespalten wird. Auf großen Bildschirmen sind seine unterschiedlichen Konterfeis zu sehen, wobei Moritz Eggert und Christian Kesten die meiste Zeit Mafalda De Lemos in ihre Mitte genommen haben. Sie deklamieren und singen in schier riesenhafter Größe über die Strapazen ihrer Eroberung und über die Ähnlichkeit einer Eingeborenen mit einer englischen Lady. Einzig ihre Hautfarbe würde die beiden voneinander unterscheiden. Und so kommt es – zwangsläufig möchte man sagen – nicht nur zur Inbesitznahme von Guiana sondern auch zur Unterjochung bis hin zur Vergewaltigung der Menschen dieses Landstriches. Wie Mafalda De Lemos anfangs zärtlich, zum Schluss brutal ihre und die Hände der beiden Männer über ihr Gesicht gleiten lässt, gehört zu einem der einprägsamsten Bilder dieses Abends. Selten, dass eine so abstrahierte Vergewaltigung so tiefe Spuren von Abscheu in der Erinnerung hinterlässt. Dem zur Seite gestellt wütet Schedls Musik, ohne auch nur eine Minute Entspannung aufkommen zu lassen. Unheilvoll, gleich von Beginn an, ändert sie nie ihre Farbe und macht dadurch deutlich, dass nichts, aber auch schon gar nichts, an diesem Geschehen schön geredet werden kann. Das Publikum muss sich ganz auf dieses furiose Geschehen einlassen. Widerstand zu leisten ist zwecklos und endet allenfalls im Verlassen des Saales. Doch es sind wenige, die die Flucht ergreifen. Der Großteil der Menschen sitzt gebannt vor den drei nebeneinander angeordneten Leinwänden, die zur Abwechslung zwischendurch zu durchsichtigen Wänden mutieren, hinter denen die drei Charaktere in leibhaftiger Größe zu erblicken sind. Es sind gerade diese Momente, die am ehesten artifiziell erscheinen und die Gedanken für Sekunden in den Kontext von zeitgenössischem Musiktheater abschweifen lassen. Die übrige Zeit jedoch ist man damit beschäftigt, dem Bericht über die mühselige Zeit im Amazonasgebiet zu lauschen und der Gewalt ausstrahlenden Komposition selbst Herr – oder Frau zu werden. Was bleibt ist eine Flut von einprägsamen Gesichtsbildern und das diffuse Gefühl, selbst einen Anteil wenn schon nicht an der Geschichte an sich, so dann doch an der daran anschließenden Entwicklung zu haben.

Nach der Pause kommt im Rahmen von „Out of Control 2013“, dem Festival für Neues Musiktheater in Wien, noch ein Stück zur Aufführung, das sich mit der Eroberung des Amazonasraumes beschäftigt. Amazonas – Aqueda do céo, was übersetzt soviel bedeutet wie „Der Einsturz des Himmels“ fußt abermals auf einem Text von Roland Quitt, der ihn nach der Überlieferung Yanomanischen Mythen gestaltete. Tato Taborda zeichnete für die Musik verantwortlich, die gleich von zwei Ensembles gespielt wird. Einerseits abermals vom „piano possibile“ andererseits kommt zusätzlich das Ensemble „die reihe“ zum Zug. Die üppige Komposition ist bei dieser Aufführung dem Geschehen auf der Bühne zwar untergeordnet fungiert jedoch größtenteils als Stimmungsbeschreibung. Und die kann durchgehend als düster bezeichnet werden. Abermals, wie schon bei der Produktion zuvor, spielt das nicht vorhandene Licht eine Hauptrolle, die Platzierung des Publikums im Raum ist jedoch eine andere. Das Bühnengeschehen ist in die Mitte von zwei sich gegenüberliegenden Sitzreihen verlegt. Der am Boden aufgeschüttete rote, aufgeschüttete Kies dämpft jeden Schritt. Die Beleuchtung ist so heruntergefahren, dass die SchauspielerInnen nur schemenhaft erkannt werden können. Der lange Prolog zu Beginn, der am Ende des Geschehens auch als Epilog verstanden werden kann und von Kristina Bangert, Grischka Voss und Ernst Kurt Weigel interpretiert wird, erzählt die Geschichte der Yanomami. Er berichtet von ihrem abgeschiedenen Leben im Regenwald über die Eroberung durch die Weißen bis hin zur Auflösung ihres Stammes. Im Dunkel des Raumes bewegen sich die drei während ihrer Erzählungen rund um die Bühne und ahmen dabei immer wieder Tierstimmen nach. Erst als die weißen Eroberer die Bühne betreten, wird das Licht ein wenig heller, sodass man das Treiben besser verfolgen kann. Und es bleibt nicht beim passiven Zusehen. Von der Decke herabfallende Stoffbahnen versperren den Blick auf die gesamte Darstellung so, dass man sich veranlasst sieht, ebenfalls auf die Bühne zu gehen und zwischen den labyrinthartigen Stoffbahnen nach den Aktionen zu suchen, die man zwar hören, aber nicht immer sehen kann. Und so wird man rasch ganz unerwartet ebenfalls zu einem Teil der Eroberer, zu einem Eindringling in einen Raum, der eigentlich nicht für ihn bestimmt ist. Die Dramatik des Geschehens kulminiert in vielzähligem Sterben und in der Errichtung einer dampfenden Maschine die zwar die technische Zivilisation versinnbildlicht, aber umgeben von Leichen zugleich sichtbar macht, welcher Preis dafür gezahlt werden musste. Wie schon bei Amazonas – Tilt! stellt sich auch hier das Gefühl ein, keine Unschuld für dieses Geschehen vorweisen zu können. Zu leicht und schnell funktioniert hier der Assoziationstransfer ins Hier und Jetzt unserer Breitengrade. Zwar ist es bei uns nicht der Regenwald, den wir haltlos niederbrennen, zwar sind es bei uns keine Eingeborenen, die unter unserem Konsumrausch leiden, Beispiele unserer Naturzerstörung gibt es aber genügend und eine Minderheit wie die Roma, der wir zwanghaft versuchen unseren Kulturstempel aufzudrücken, leidet tagtäglich unter den Repressalien, denen sie derzeit ausgesetzt ist. Das große Ensemble, bestehend aus SchauspielerInnen, SängerInnen und TänzerInnen leistet Schwerstarbeit durch die ständige Präsenz, die ein ununterbrochenes Agieren erfordert. Die extreme Nähe zu ihnen und der Shiftwechsel vom Publikum zum ebenfalls auf der Bühne Agierenden verstärken das Feeling, Teil dieses Eroberungsfeldzuges zu sein und machen zugleich auch deutlich, wie rasch im Kollektiv so manches akzeptiert wird, was man als einzelner verdammen würde.

Die beiden Aufführungen, Koproduktionen von netzzeit, Münchener Biennale, SESC São Paulo, Goethe Institut, ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Hutukara Associação Yanomami, Teatro Nacional de São Carlos (Lissabon) zeigen, was zeitgenössisches Musiktheater imstande ist zu leisten. Zwei sehenswerte Vorstellungen zum Nach-Denken, die dennoch ohne eine didaktische Holzhammermethode auskommen.


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