Entscheidungen jenseits des Ego
von Claus Janew
Wer sind wir? Wohin gehen wir? Warum gehen wir dorthin? Derartige Fragen beschäftigen uns seit Jahrtausenden. Und irgendwie scheinen sie alle mit dem zusammenzuhängen, was wir das Selbst nennen: mit dem Gefühl, ein bestimmtes, unverwechselbares Individuum zu sein. Ob ich etwas für mich oder jemand anderen tue, ob mit allen anderen oder allein – immer bin ich es, der handelt oder duldet.
Doch wer oder was eigentlich dieses Ich ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Wir können unser Gesicht im Spiegel betrachten, aber nicht das Original. Wir können über unseren Geist nachdenken, aber nicht über den, der gerade nachdenkt. Wir können vielleicht zwischen Betrachter und Betrachtetem wechseln, aber offenbar nie das Ganze umfassen. Diese Schwierigkeit, der sogenannte unendliche Regress des Beobachters, hat manche Philosophen dazu veranlasst, das ständige Hin und Her aufzugeben und zu behaupten, wir seien eben wer wir sind. Punkt. Sie sprechen beispielsweise vom Selbst als dem „blinden Fleck“ im Bewusstsein, dem Punkt, der sich nicht selbst bewusst werden kann und doch immer vorhanden ist, welchen Beobachtungsstandpunkt wir auch einnehmen.
In der Tat können wir in tiefer Meditation eine grundlegende Identität erfahren, deren Empfindung von keiner äußeren Wahrnehmung abhängt und auch nach der Meditation erhalten bleibt. Ihre bekannteste Deutung besagt, dass wir eigentlich über gar kein Selbst verfügen, sondern dass alles, was wir dafür halten, nur eine Konstruktion unseres ruhelosen Geistes darstellt. Wenn wir unabhängig von allen wahrzunehmenden Strukturen sind, könnten wir schließlich auch keine unterscheidbare Identität „besitzen“. Haben wir damit den Stein der Weisen gefunden?
Richtig ist sicher, dass wir zum Beispiel Entscheidungen treffen, ohne jedes Mal zu reflektieren, ob die Verwirklichung dieser oder jener Möglichkeit für uns gut wäre. Wir handeln aus einem freien Gewahrsein der ganzen Situation heraus, welche auch unser mehr oder weniger authentisches Identitätsempfinden beinhaltet.
In diese Situation gehen unterbewusste Impulse und bewusste Ideale ebenso ein wie einander ausschließende Alternativen, Aktivitäten anderer Quellen und… Doch halt! Andere, das heißt Unterschiede, soll es ja gemäß obiger Auslegung im Grunde nicht geben, allenfalls Illusionen von Unterschieden. Warum aber entscheiden wir dann überhaupt? Warum setzen wir uns nicht hin und erstarren? Oder verflüchtigen uns ins Leere? Hat die Illusion eine Bedeutung?
Wir erleben eine Welt physischer und psychischer Gestalten, die recht eigenwillig handeln. Das Individuum wählt zudem ständig andere Situationen, ändert also die individuelle Erfahrung bis zu einem gewissen Grad, meint allerdings im Rahmen dieser Veränderung eine Konstante zu bleiben. Es erfährt ein Zentrum. Doch dieses ist zumindest mit den Unterschieden der Welt verwoben, spiegelt sie und spiegelt sich in ihnen. So erfährt es „sich selbst“ oder ein konkretes Selbst – und zwar um so reichhaltiger, in je mehr (Spiegel-) Bildern es erscheint. Es schält sich ein Kern aus dem Unbewussten, der von immer mehr durchlaufenen Bewusstseinsfokussen umschrieben wird. Ein Selbst ohne ihn wäre tatsächlich Nichts…
Bitte beachten Sie, dass wir uns noch nicht über die unmittelbare Beziehung zwischen Selbst und Umwelt hinausbegeben haben. Wir sind in die individuelle Erfahrung eingebettet. Das Selbst kondensiert vielmehr im Innern einer veränderlichen Ganzheit.
Gehen wir nun einen Schritt weiter, kann sich das Selbst von unterschiedlichen Standpunkten aus selbst beobachten. Erst jetzt bildet sich das klassische Selbstbewusstsein, die reflexive Selbstbetrachtung.
Genau genommen aber fasse ich meine durchlaufenen Bewusstseinsfokusse als dynamische Vielfalt, als Individuen zusammen, in Form eines Gewahrseins unterschiedlicher Erfahrungszentren, die in meinem gegenwärtigen kulminieren. Ich nehme also eine Hierarchie von Einstellungen wahr, zwischen denen ich wählte beziehungsweise (wieder) wählen kann. Dabei bin ich mir nur meiner individuellen Gipfelposition in ihr selbstbewusst, mehr eines erreichten Punktes als eines Objektes.
Dieses Gewahrsein können wir auch auf „fernere“ Individuen ausdehnen, indem wir uns in deren Standpunkte hineinversetzen und aus ihnen zurückkehren; wir schauen mit den Augen der Mitgeschöpfe und integrieren ihre Sicht in einer neuen, eigenen. Eine solche Wahrnehmung kann nicht in erster Linie egoorientiert sein, da sie sich aus den Erfahrungswelten der anderen – wenn auch zu einem letztlich diffuseren Ergebnis – zusammensetzt. Was etwa den anderen Schaden zufügt, schadet unmittelbar dem eigenen Befinden. Oder anders formuliert: In den anderen erkennen wir unterschwellige Aspekte unserer selbst.
Damit haben wir eine Wirklichkeitseinstellung erlangt, die uns vom vielgeschmähten Egoismus befreit – trotzdem wir unsere Eigenart keineswegs leugnen. Auch wenn das Individuum irgendwann aus seinem bisherigen Bewegungsspielraum ausbricht, verliert es sich nicht. Es erkennt lediglich, dass seine Individualität tiefer wurzelt, als es annahm. Können solche Wurzeln ins Nirgendwo führen?
Kaum. Gleichwohl ist es ebenso wenig plausibel, sie in einen absolut festen Grund hineinzuspekulieren. Wie der Weg, auf dem wir lernen, sollte sich die Dynamik des Bewusstseinsfokus im unterbewussten (nicht unbewussten) Innern fortsetzen. Sie mag dort in einem Objekt gerinnen oder einen infinitesimalen Gipfel konstituieren – auf einen endgültigen Boden treffen wir sicher nicht. Insofern behalten die Theoretiker der letztendlichen Selbst-Leere recht. Doch Leere ohne strukturierte Erfahrung und ein wesenhaftes Gewahrsein ist ohne alle Bedeutung.
Lässt sich aus dem Gewahrsein erklären, warum wir bestimmte Ziele anstreben? Wenn wir nicht notwendig auf ein objekthaftes Ego fixiert sind – was treibt uns dann? Woher kommen jene Impulse und Ideale, denen wir folgen?
Wie ich in meinem Buch Die Erschaffung der Realität begründet habe, entspringen sie dem dynamischen Ineinandergreifen unzähliger Bewusstseinseinstellungen, die eine Ergänzung ihrer stets einseitigen Erfahrung ersehnen, welche zugleich die Gesamtheit und jedes Individuum bereichert.
Diese liebevolle Werterfüllung (Jane Roberts) ist ihr eigener Zweck und kann durchaus ein Ego-Objekt einbeziehen, gleichsam als Symbol der eigenen Individualität. Nur wenn dieses Ego Vorherrschaft beansprucht, schränkt es das Gewahrsein unverhältnismäßig ein, verzerrt die ursprünglichen Impulse und verwandelt enttäuschte Erwartungen der Liebe bisweilen in Hass.
Fassen wir zusammen: Das Selbst ist nicht unbedingt ein Objekt, sondern das empfundene Zentrum einer Reihe von individuellen Standpunkten, in denen es sich selbst überschreitet. Dementsprechend entscheiden wir uns für bestimmte Wege, um uns auf neue Weise zu erfahren. Sind aber diese Entscheidungen egoistisch motiviert, beschränken wir unser Ziel und damit uns selbst. Das Individuum ist von Natur aus nicht begrenzt und schon gar nicht leer: Es ist unerschöpflich.
Quelle des Artikels: http://bewusstsein-und-realitaet.de/bewusstsein/gewahrsein.htm