Das Salz der Erde
Weihnachtsgeschichte 2014
#BadReichenhall #Berchtesgaden #Salz #Sole #Saline
Schon von jeher gab es eine gewisse Rivalität zwischen Berchtesgaden und Bad Reichenhall. Angefangen vom Handel mit Salz und dessen Vermarktung bis hin zum Wildererkrieg. Als „natürliche Grenze“ zwischen beiden Orten wird heute noch der Turm am Hallturmer Berg bezeichnet. Ja, es wurde tatsächlich einmal scharf geschossen hierzulande.
Der Soleleitungsweg bis zur Reichenhaller Saline von den Berchtesgadener Stollen aus gilt für David als bautechnische Meisterleistung. Das weisse Gold machte die Gegend einst reich.
David´ s Großvater erzählte dem Jungen eine Geschichte, die sich um die Weihnachtszeit im zweiten Weltkrieg abgespielt hat:
„Ich war zu dieser Zeit in russischer Gefangenschaft. Dein Vater und deine Tante waren noch sehr klein. Deine Oma hat mir nach meiner Rückkehr aus Sibirien immer wieder von der Bombardierung des Stadtgebiets berichtet. Wenn Fliegeralarm herrschte, nahm Großmutter die beiden Kleinen an der Hand und flüchtete mit vielen Ihrer Nachbarn vom Florianiplatz in den Quellenbau unter der alten Saline. Dort unten in der Tiefe befand man sich in Sicherheit. Die Salinenarbeiter hatten dort bei den Solepumpen Lebensmittel bereitgestellt, um einige Tage und Nächte verweilen zu können. Die Stadt befand sich tagelang unter dem Beschuss britischer Kampfflugzeuge.
Am 22. Dezember floh man erneut hinunter. Es sollte wohl das traurigste Weihnachten aller Zeiten für unsere Familie und alle Reichenhaller Einwohner werden. Dein Papa fragte immer wieder, wann sie denn in ihr Haus in der oberen Stadt zurückkehren können. Oma hatte Wolldecken und ein paar Kerzen dabei, um die feuchte Luft und die Dunkelheit ein wenig erträglicher zu machen. Neben ihnen kauerte eine Frau alleine im Gang und weinte. Als deine Oma sie fragte, ob sie ihr irgendwie beistehen könnte, gab sie ihr zur Antwort:
„Mein Mann ist an der Ostfront. Bis vor vier Wochen erreichten mich wöchentlich Briefe von ihm in meinem Haus in Bischofswiesen. Es ist ein kleines Gehöft, das ich alleine nicht mehr unterhalten konnte. Es kam keine Post mehr von ihm, also verließ ich den Hof, um in Reichenhall irgendwo ein wenig zu arbeiten. Jetzt bin ich hier. Ich weiß nicht, ob mein Mann noch lebt und wie es jetzt zu Hause aussieht.“
Die beiden Frauen sprachen lange miteinander. Die Verzweiflung der Menschen war riesengroß. Der Postler kam jeden zweiten Tag hinab in die Gewölbe, doch zumeist hatte er nur drei bis vier Brieflein dabei. Deine Oma hatte ebenso schon länger nichts von mir gehört. Ich war Sanitäter und das Lazarett an der polnisch-russischen Grenze füllte sich von Tag zu Tag. Nach meiner Festnahme, im Gefangenenlager in Sibirien konnte ich erstmals wieder ein Schreiben an sie verfassen.
Umso größer war die Freude, als ein Lebenszeichen von mir bei ihr und den Kindern eintraf. Zeitgleich bekam auch die Bäuerin aus Bischofwiesen einen Brief. Hastig öffneten beide die lang ersehnte Post. Sie stellten zu ihrer großen Verwunderung fest, dass sowohl ich und auch der Ehemann der jetzt zitternden Frau im Quellenbau einen fast identischen Text schrieben.
„Es geht uns den Umständen entsprechend hier. Die russischen Landfrauen bringen uns immer wieder einen Laib Brot vorbei, manchmal auch Tabakwaren. Zigaretten sind mittlerweile das Hauptzahlungsmittel. Ich habe hier einen Mitgefangenen aus Berchtesgaden. Er ist wohlauf, aber sorgt sich sehr um seine Frau.“
Johanna, so war ihr Name erfuhr in Ihrem Schreiben, dass sich ihr Mann mit einem Reichenhaller angefreundet hatte. Beide setzten unter der Signatur ein Symbol des Straflagers, um die Herkunft und Echtheit der Briefe zu besiegeln. Es gab keinen Zweifel, dass ihre Ehemänner sich ebenfalls kennengerlernt hatten – Es handelte sich um Max und mich.
Kurz vor der Entlassung aus dem Lager verlor ich Max aus den Augen. Er war bei einer Arbeit im Holz bei minus 40 Grad in einem Wald zusammengebrochen. Ich brachte nicht in Erfahrung, ob er überlebt hat.
Fünf Jahre später, wieder an Weihnachten, genauer gesagt am heiligen Abend 1948 saß ich mit Oma, deinem Vater und deiner Tante im Wohnzimmer. Deine Großmutter war bereits zum dritten Mal schwanger und schmückte den Christbaum. Vor der Mitternachtsmesse trafen wir uns jedes Jahr mit den „Oberstadtlern“ am Brunnen des Florianiplatzes. Oma traute ihren Augen nicht, als sie die liebe Johanna mit einem Herrn am Eingang des alten Wirtshauses stehen sah. Sie eilte sofort zu ihr und begrüßte sie.
Es stellte sich heraus, dass auch ihr Liebster aus Russland zurückgekehrt sei. Da stand er nun und ich erkannte ihn natürlich wieder. Jetzt erst, nach dem Krieg erfuhren wir Heimkehrer, dass unsere Frauen sich aus der alten Saline kannten. Max erzählte uns, dass der Bauernhof in Bischofswiesen aufgegeben wurde. Das Paar hatte sich eine kleine Wohnung in der Unterstadt angemietet. Vor dem Krieg, so erinnerte sich Max, war er an stetigen Ausbesserungen am Soleleitungsweg beteiligt. Das Schicksal führte uns bestimmt aus einem Grund auf glückliche Art und Weise wieder zusammen. Er führte uns an eine bestimmte Stelle an den alten Holzrohren an einem Waldesrand und zeigte uns eine Gravur, die von ihm selber stammte, bevor die Nazis ihn in die Artillerie beorderten.
„Liebe ist das Salz der Erde.“
Tatsächlich hat es unsere Frauen im Bombenhagel in Form der alten Saline beschützt. Nicht jede Region besaß in diesen Zeiten jodhaltige Lebensmittel, die so notwendig waren. Deshalb beschwerte ich mich auch nicht mehr bei deiner Oma, wenn die Suppe zur Mittagszeit ein wenig „verliebt“ gewürzt war. Max und ich sahen uns jetzt regelmäßig, denn einmal im Monat spielten die „Oberstadtler“ und die „Unterstadtler“ gegeneinander Fußball. Der „zuagroaste“ Maximilian jenseits der Grenze des Hallturmer Berges war wohl einer der ersten Fußballlegionäre der Geschichte. Geld bekam er für seinen „Vereinswechsel“ keines, aber das größte Weihnachtsgeschenk wurde ihm und mir gemacht. Wir durften weiterleben und glücklich sein.“
Nach dieser Geschichte seines Opas, die David sehr berührt hat, ist er nachdenklich geworden. Er darf eine Ausbildung in einem Hotel im Markt Berchtesgaden machen. Die Buttnmandl haben es am letzen Nikolaustag nicht so gut mit ihm gemeint. Sie wussten, dass David ein Reichenhaller ist, denn die Bassn wurden auf Ihren Sitzungen in der Gaststube von ihm selbst bedient. Er hat ein Nachsehen mit ihnen und auch mit der Tatsache, dass sie relativ wenig Bier konsumierten, weil sie unter dem Tisch ihren eigenen Gebirgsenzian versteckt hatten.
In der heutigen Zeit ist es ein Geschenk, dass bei uns kein Krieg mehr ist. Hoffentlich bleibt das so. David´ s Opa hat Jahre damit verbracht, die Toten zu vergessen, die in der klirrenden Kälte am frühen Morgen neben ihm lagen, als er gottseidank wieder aufwachen durfte.
Der Junge hat sich eben ein Brot geschmiert. Selbstverständlich mit Butter aus dem Kühlschrank und einer ordentlichen Portion „Wurschtradln“. Der Unterschied ist nur, dass er jetzt jedes Mal lächelt, wenn er sich sein Essen ein bisschen nachsalzt. Denn eines ist gewiss: Um das weisse Gold fix und fertig in den Streuer zu bringen, bedarf es echter Männer,und das seit Jahrhunderten. Eine Soleleitung und Saline, einen Gestalter der schönen Verpackung und die Erkenntnis: Berchtsgoan und Reichahoi kern zam. Und Salzburg auch, denn dass man zu Österreich gehört, kann in so turbulenten Zeiten, die meist vorgeherrscht haben, schon einmal passieren.
Frohe Weihnachten!
© Roman Reischl, 20. Dezember 2014