Das rätselhafte Räderwerk von Antikythera

111 Jahre nach seiner Entdeckung scheint ein unglaubliches Fundstück aus der Antike jetzt enträtselt. Ein Genfer Uhrenhersteller hat die Rechenmaschine en miniature nachgebaut.

Das rätselhafte Räderwerk von Antikythera

Auf den ersten Blick ein Trümmerstück: Im Innern verbergen sich dreissig Zahnräder.Bild: Antikythera Mechanism Research Project

Die Geschichte des Mechanismus von Antikythera gehört zu den unglaublichsten der Archäologie. Im Jahre 1900 entdeckten griechische Schwammtaucher vor der Insel Antikythera im Meer von Kreta ein römisches Schiffswrack. Statuen, Schmuckobjekte und Luxusglaswaren konnten in einer mühevollen und gefährlichen Aktion geborgen werden. Erst nach ein paar Monaten fiel einem Museumsangestellten ein unscheinbares, etwa 30 Zentimeter grosses Fundstück auf, das fast ganz verkalkt war und im Trockenen langsam zerbröselte. Im Innern waren Schriftzeichen zu erkennen und die Spuren von fein gearbeiteten Zahnrädern. Die Fachleute waren verblüfft. Ähnliche feinmechanische Wunderwerke kannten sie frühestens aus dem 13. Jahrhundert, als die ersten Uhrwerke scheinbar aus dem Nichts auftauchten.

Während Jahrzehnten hat seither der Mechanismus von Antikythera Archäologen, Astronomen, Historiker und Techniker beschäftigt. Was war das für ein Räderwerk, das im ersten vorchristlichen Jahrhundert von Kleinasien nach Rom transportiert werden sollte? Wo kam es her? Was war sein Zweck?

Vorläufer analoger Computer

Spekuliert wurde viel: War es der erste Computer der Weltgeschichte? Oder ein Navigationsgerät, das ausserirdischen Besuchern aus dem UFO gefallen war? Schon 1907 hatte der deutsche Forscher Albert Rehm auf ein Planetarium getippt. Andere Experten glaubten, es habe sich wohl um ein Navigationsinstrument gehandelt, weil es ja auf einem Schiff gefunden worden sei. In den 20er- und 30er-Jahren wurden die etwa hundert Trümmerstücke gereinigt, blieben aber rätselhaft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm sich der auf antike Instrumente spezialisierte britische Physiker Derek de Solla Price des Rätsels an. Es gelang ihm 1972, im Museum in Athen Röntgenbilder anfertigen zu lassen. Jetzt konnte er sehen, wie viele Zahnräder sich im Innern des versteinerten Gebildes befinden, wie sie angeordnet sind und wie viele Zähne jedes hat. Price baute eine Nachbildung, ein Gerät, das astronomische Daten, die Stellung von Sonne und Mond im Tierkreis oder die Mondphasen mechanisch errechnen konnte.

Zur Navigation von Raumschiffen benutzt?

Die Fachwelt nahm staunend zur Kenntnis, dass die Griechen der Antike offensichtlich nicht nur Philosophen waren, sondern auch mechanische Rechenmaschinen bauen konnten. Der Mechanismus von Antikythera war der erste Vorläufer der analogen Computer. Doch die Details blieben weiter unklar. Erich von Däniken meinte, das System sei von Ausserirdischen für die Navigation ihrer Raumschiffe benützt worden. Das sei für die Erforschung des Antikythera-Fundes «wenig hilfreich» gewesen, da sich seriöse Wissenschaftler nicht mit einer solchen «Kuriosität» beschäftigen mochten, schrieb die britische Journalistin Jo Marchant in einem populärwissenschaftlichen Buch, das dieses Jahr auch auf Deutsch erschienen ist. Mit modernen Methoden wurden die Trümmer seither genauer untersucht. Wissenschaftler machten durch Aufnahmen mit Speziallicht Schriftzeichen lesbar, stellten vom Innenleben hochaufgelöste dreidimensionale Computertomografien her. Mit virtuellen Modellen wurde die Funktionsweise des Apparats getestet, immer bessere Rekonstruktionen kamen dazu.

Häufig finden jetzt wissenschaftliche Kongresse statt, denn immer noch wird an der Enträtselung vieler Details gearbeitet. Die Resultate des letzten Workshops des Antikythera Mechanism Research Project im Juli sind noch nicht publiziert. Laut Yanis Bitsakis, einem der seit längerem beteiligten Forscher, steht jetzt zweifelsfrei fest, dass der Mechanismus auch die Positionen der damals bekannten fünf Planeten darstellen konnte. Zwar hat man die dazu erforderlichen Bestandteile nicht mehr finden können, doch von den Tausenden winziger Buchstaben des Textes, der Gebrauchsanleitung, sind inzwischen so viele entziffert, dass dieser Schluss gezogen werden kann. Hoffnung darauf, bei Unterwassergrabungen am Wrack noch Teile zu finden, bestehe kaum, sagte Bitsakis diese Woche in Paris. Seit eine Tauchequipe von Jacques Cousteau 1976 den Fundort letztmals besucht habe, sei das Wrack nach diversen Erdbeben weit in der Tiefe versunken.

Antikythera als Armbanduhr

Bekannt ist, dass sich der Mondkalender des Mechanismus auf die sizilianische Stadt Siracusa bezieht, die Stadt, in der im dritten vorchristlichen Jahrhundert der Mathematiker Archimedes lebte. Ging die geniale Konstruktion auf ihn zurück oder auf Schüler von ihm? In der römischen Literatur ist bei Cicero ebenfalls von kunstvollen Zahnrädermechanismen die Rede. Gab es noch weitere Modelle, und gibt es eine Verbindung zu den mechanischen Uhren des Mittelalters? Längst nicht alle Fragen zum Fund sind beantwortet.

Zu den Experten, die sich von der Faszination des einmaligen Fundstücks anstecken liessen, gehört auch Mathias Buttet, Chef der Forschung und Entwicklung beim Genfer Uhrenhersteller Hublot. Er wollte als Hommage an die Schöpfer des Originals den Antikythera-Mechanismus mit heutiger Uhrmachertechnik so miniaturisieren, dass er in eine Armbanduhr passt. Das Forschungslabor und der Prototypenbau waren Hunderte von Stunden mit der anspruchsvollen Aufgabe beschäftigt. Hublot-Chef Jean-Claude Biver liess sich das Vorhaben «zwischen drei und fünf Millionen Franken» kosten, wie er sagte, als das fertige Stück diese Woche in Paris den eingeladenen Presseleuten vorgestellt wurde. Ein kommerzielles Produkt wird aus der Antikythera-Armbanduhr nicht, sie bleibt ein Museumsstück. Zu bewundern unter der Lupe im Musée des Arts et Métiers, einer ausserhalb der Fachwelt zu Unrecht wenig bekannten Sammlung wichtiger Zeugnisse aus der Geschichte von Wissenschaft und Technik, die dort schön wie Kunstwerke präsentiert werden. Der Nachbau des Antikythera-Mechanismus passt gut dazu.

Jo Marchant: Die Entschlüsselung des Himmels. Deutsch bei Rowohlt, 2011. 300 S., ca. 38 Fr.

via Das rätselhafte Räderwerk von Antikythera – News Wissen: Geschichte – baz.ch.


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