Das Problem der zwei Leitwölfe (Blogparade #Leitwölfe)

Das Problem der zwei Leitwölfe (Blogparade #Leitwölfe)Die Redaktion des myToys-Blogs hat zur Blogparade #Leitwölfe aufgerufen. Gerade ist ein neues Buch von Jesper Juul: Leitwölfe sein (Beltz Verlag 2016) erschienen und ich wollte sowieso schon länger zu dem Thema etwas schreiben, allerdings mit einem etwas anderen Fokus. Ich werde deshalb erst kurz das Buch vorstellen und dann noch einige zusätzliche, persönliche Gedanken und Fragestellungen beschreiben.
Im neuen Buch von Jesper Juul geht es darum, dass viele moderne Eltern aufgrund fehlender Vorerfahrungen bzw. Reife, gesellschaftlicher Veränderungen und mangelnder persönlicher Integrität verlernt haben, Führung in der Familie zu übernehmen und deshalb die Kinder zu Leitwölfen werden (Leitwölfe S. 11). Juul begrüßt wie in allen seinen Büchern die Abkehr vom autoritären Erziehungsstil früherer Generationen, plädiert aber dringend dafür, zu einem zeitgemäßen Autoritätsverständnis zu finden und wieder zu Leitfiguren für Kinder zu werden. Dies geschieht durch die Übernahme persönlicher Verantwortung, gegenseitiges Lernen, Integrität, Authentizität, Achtsamkeit und Empathie, Vertrauen ins Kind und die Kommunikation individueller Grenzen, was Juul als besonders wichtig für viele moderne Mütter ansieht.
Ich bin mir immer nicht so sicher, ob sich wirklich große Teile der heutigen Eltern vom autoritären Erziehungsstil abgewandt haben. Klar, in der Elternbloggerszene oder in bestimmten Bildungsschichten ist das der Fall, aber in der Alltagswirklichkeit sieht es doch oft anders aus. Alle Eltern sind selbst unterschiedlich geprägt, bewegen sich in bestimmten Kreisen, die ihr Erziehungsmodell mittragen, und viele stecken noch in althergebrachten Ansichten fest, die Erziehung als Machtkampf begreifen. Deshalb denke ich, dass es nicht nur für Eltern, die sich mit einer klaren Führungsrolle auf Basis von persönlicher Autorität in der Familie schwertun, sondern noch mehr für Eltern, die sich am anderen Ende der Fahnenstange befinden und ihre Kinder nicht als gleichwürdige Wesen ansehen, unabdingbar ist, zu einem zeitgemäßen Autoritätsverständnis zu kommen.
Das Prinzip des Leitwolfes versteht Juul nicht im Sinne einer Rückkehr zur althergebrachten Machtausübung über Kinder, sondern als Festsetzen und Kommunizieren der persönlichen Grenzen, als Authentizität und den Willen, an und mit den Kindern zu lernen und sich zu reflektieren. Der Begriff der Gleichwürdigkeit (nicht zu verwechseln mit Gleichheit) steht weiterhin im Zentrum seiner Auffassung und bedeutet, dass Eltern ihr Kind grundsätzlich erstmal genauso ernst nehmen sollten wie sich selbst. Dennoch brauchen Kinder Führung, weil "sie zwar kompetent sind, aber keine Erfahrung haben" (Leitwölfe S. 180). Deshalb ist die entscheidende Frage, "wie man in der Familie gleichwürdig Führerschaft ausüben kann" (Leitwölfe S. 152). Für alle, die mit diesem Begriff im Familienkontext Schwierigkeiten haben (wie mich), präzisiert er, was er damit meint: "Führerschaft bedeutet nicht, andere Menschen herumzukommandieren oder dem eigenen Willen zu unterwerfen. Sie besteht vielmehr in der Fähigkeit, die eigenen Werte und Ziele mit so viel Integrität zu vertreten, dass andere sich zur Zusammenarbeit animiert fühlen." (Nein aus Liebe, S. 26). Dazu gehört, nicht nur die eigenen Grenzen zu vertreten, sondern auch die der Kinder zu beachten. Es geht also um Gegenseitigkeit und nicht um ein einseitiges Führungsprinzip. Die gleichwürdige Position der Kinder verändert sich für ihn nicht, sondern wir Eltern sollen klarer, persönlicher, authentischer und damit glaubwürdiger werden, für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen Sorge tragen und damit zu Vorbildern und "Leitwölfen" für unsere Kinder werden.
Auch wenn man durch den Buchtitel erstmal den Eindruck gewinnt, es handle sich um eine Neuorientierung Juuls, so wird es beim Lesen klar, dass er schon mehrfach geäußerte Gedanken aus vorherigen Büchern weiterentwickelt. Besonders an Jesper Juuls Buch Nein aus Liebe erinnerten mich viele Passagen. Auch dort spricht er sich schon für eine klare Führung, basierend auf persönlicher Integrität und Authentizität aus. Allerdings differenziert er in Nein aus Liebe meines Erachtens nach besser die verschiedenen Lebensphasen von Kindern und berücksichtigt auch besondere Charaktere (z.B. autonome Kinder ab S. 84 ff.), auf die in einer anderen Art und Weise eingegangen werden muss. Er macht dort auch ganz deutlich, dass mindestens in den ersten 18 Lebensmonaten andere Maßstäbe gelten: "In dieser Zeit des Familienlebens müssen die Erwachsenen ihre eigenen Grenzen überschreiten und ihre Bedürfnisse zugunsten der kindlichen Entwicklung in den Hintergrund stellen." (Nein aus Liebe, S. 23). Diese sowohl Alters- als auch Charakterdifferenzierungen fehlen mir im Buch Leitwölfe sein.
Ich möchte aber noch auf einen anderen, persönlichen Aspekt hinaus, der zu dem Thema passt und bei uns im Alltag immer wieder auftaucht und Probleme bereitet:
Uns fällt immer wieder auf, dass unsere Kinder besser mitarbeiten, kooperativer sind und der Alltag ruhiger abläuft, wenn nur ein Elternteil anwesend, sprich zuständig ist. Das trifft auf meinen Mann und mich gleichermaßen zu. Ich selbst bemerke das ganz oft und auch er berichtet das, wenn er die Kinder allein hat. Sind beide Elternteile da, ist es oft so, dass mehr geheult, gestritten, boykottiert und Konflikte gesucht werden als sonst. Ständig zwischen den beiden Elternteilen hin- und hergeswitcht wird, Unterstützung gesucht und der andere ggf. abgelehnt wird. Gerade Alltagssituationen wie das morgendliche Fertigmachen und Zur-Kita-Bringen laufen meist reibungsloser ab, wenn nur ein Elternteil zuständig ist. Als ich wegen Krankheit meines Mannes mal ein Wochenende komplett allein für die Kinder zuständig war, war das zwar anstrengend, aber deutlich harmonischer und damit auch einfacher als oftmals zu viert.
Mich erinnert das auch immer an das Prinzip des Leitwolfes. Einer führt an, alle folgen. Wenn zwei anführen, gibt es Verwirrung. Ich glaube, dass das im Prinzip auch für eine Familie gilt. Bei unseren Kindern merkt man es relativ deutlich, und als ich das Problem schon mehrfach auf Twitter schilderte, bekam ich viel ähnlich lautendes Feedback. Die meisten Eltern hatten die gleiche Erfahrung gemacht. Woran liegt das? Stimmen wir uns nicht gut ab? Sind wir nicht klar genug? Sind wir kein "einheitliches Bollwerk"? Es liegt augenscheinlich nicht an einem von uns Eltern, da das Prinzip, dass die Kinder bei Zuständigkeit eines Elternteils besser kooperieren, bei beiden auftritt. Es ist auch nicht unbedingt ein anstrebsamer Zustand, vor allem nicht auf Dauer, da es doch anstrengend und kräftezehrend ist, allein verantwortlich zu sein. Aber das Durcheinander und Fehlen von Orientierung, wenn beide Eltern da sind, ist auch sehr anstrengend.
Ich denke, es gibt in jeder Familie Situationen, wo der eine Elternteil etwas kundtut und der andere entweder in Unkenntnis oder weil er eine andere Meinung vertritt, das Gegenteil davon. Oder der Eine den Plan A äußert und der Andere einen Plan B. Es ist definitiv auch wichtig für Kinder, dass sie unterschiedliche Auffassungen und Haltungen kennenlernen und sehen, dass Eltern keine Phalanx sind, gegen die sie sich behaupten müssen und gar nicht können, sondern zwei individuelle Menschen mit ganz eigenen Ansichten und Handlungsweisen. Juul sagt dazu: "Es ist egal, wie viel Energie ein Paar darauf verwendet, sich über Prinzipien, Theorien und Werte zu verständigen - die Praxis wird immer wieder anders aussehen. Das ist übrigens ein großer Vorteil für die Kinder, denn deren soziale Kompetenzen werden sich verdoppeln. Das Geheimnis einer von Mutter und Vater gemeinsam ausgeübten Führung besteht darin, den Raum zu schaffen, dass ihre Verschiedenheit Wirkung zeigen kann." (Leitwölfe, S. 64).  
Abgesehen davon, dass ich es nicht egal finde, wieviel sich Eltern über Werte und Ansichten austauschen, bleibt offen, wie das konkret aussehen soll. Selbst wenn jedes Elternteil für sich genommen authentisch, integer, empathisch und klar ist, besteht immer noch das "Problem", dass zwei Eltern völlig verschiedene Charaktere, Werte und Prägungen aufweisen können. Dass es grundsätzlich positiv ist, wenn Kinder mit unterschiedlichen Ansichten in Berührung kommen, ist unbestritten. In Bezug auf das Thema "Leitwolf" jedoch kann es immer mal wieder zu Konflikten führen. Selbst wenn jedes Elternteil einzeln ein guter Leitwolf im Juulschen Sinne ist, können zwei Leitwölfe für Verwirrung, Desorientierung und Instabilität sorgen. Das ist zumindest unsere Erfahrung und - nach dem persönlichen und Online-Austausch zu urteilen - auch die vieler anderer Eltern. Für dieses Problem habe ich im Buch leider keine Lösung gefunden. Für den gleichwürdigen, authentischen Umgang mit Kindern dagegen gibt es wie immer bei Juul wunderbare, wichtige Gedanken und Anstöße.
Kennt ihr das geschilderte Problem auch? Welche Strategien habt ihr dafür entwickelt?
Dieser Text soll explizit keine Buchrezension sein, sondern ist für die Blogparade #Leitwölfe verfasst worden. Vielen Dank an den Beltz Verlag für die (unangeforderte, aber willkommene) Zusendung des Leseexemplars.
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