Das Prinzip der spirituellen Übertragung

Das Prinzip der spirituellen ÜbertragungIm Buddhismus wird seit der Frühzeit des Buddhadharma von Übertragung und Überlieferung gesprochen. So beginnen die Sutras immer mit „Dies habe ich gehört…“ Dies beschreibt die Überlieferung, die eine Person gehört hat auf eine andere Person oder eine ganze Gruppe. Besonders im Vajrayana besteht die Übertragung aus Ermächtigung, Leseübertragung und aufzeigenden Erklärungen. Wenn diese drei Aspekte zusammenkommen, dann ist eine Übertragung vollständig. Da es im Sutrayana keine Ermächtigung gibt, besteht die Übertragung durch Leseübertragung und aufzeigenden Erklärungen.
Im Allgemeinen verbindet uns eine Übertragung mit einer spirituellen Linie. Dies kann durch Segnungen, meditative Rituale, künstlerische Formen und auch verschiedene Formen des Lehrens erfolgen.
Bei einer Ermächtigung wird je nach Tantra-Klasse durch den Kontakt mit den Samaya-Substanzen und den entsprechenden Visualisationen ein Same für das Reifen der Buddhakayas gelegt. Deshalb spricht man im Vajrayana auch davon, dass die Ermächtigung den reifenden Aspekt darstellt, während die Praxis selbst den befreienden Aspekt bildet. Darüber hinaus werden im Vajrayana durch eine Ermächtigung auch die verschiedenen Arten der Geburt gereinigt.
Bei einer Leseübertragung wird der Text laut und  meist auch rasch vorgelesen. So erfolgt die Verbindung zur Linie der spirituellen Nachfolge bis hin zum Verfasser des besagten Textes. Was nun aber übertragen wird, geht über das bloße verstandesmäßige Erfassen hinaus. Da neben der Information, die ein Text bietet, auch mit Klang und Visualisation gearbeitet wird, erfolgt eine tiefgründige Integration des Textes und seiner Praktiken. Daneben geschieht auch eine Segensübertagung. Zwischen den beiden Teilen der Übertragung – dem übertragenden Lehrer und dem empfangenden Schüler – wird eine Verbindung aufgebaut. Dieses Zusammentreffen bedeutet auch, dass der Lehrer etwas zu geben und der Schüler eine Fähigkeit des Aufnehmens hat. Das Aufnehmen erfolgt dabei emotional, geistig und/oder kontemplativ, und das ist keine geringe Sache. In vielen Kommentartexten wird immer wieder darauf hingewiesen, wie man angemessen den Lehren zuhört und wie man sich dabei auf den Lehrer bzw. Vortragenden bezieht.
Die Verbindung zwischen beiden ist für den Erfolg einer Übertragung entscheidend. Wenn die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ausgezeichnet ist, dann führt bereits eine Ermächtigung nicht nur zur Reife, sondern auch zur Befreiung. Gleiches gilt auch für die Leseübertragung und die aufzeigenden Erklärungen.
Am besten ist es, wenn Vertrauen und Hingabe als Teil einer mitfühlenden Haltung zwischen beiden besteht. Eine im Vajrayana zentrale Praxis ist das Guru-Yoga. Dies ist nicht ein simples Verehren eines Menschen, sondern gründet auf einer tiefgründigen Sicht, dass der Lehrer in der Wesensessenz Vajradhara bzw. Samantabhadra ist. Guru-Yoga eröffnet eine erhöhte Aufnahmefähigkeit, die den Schüler über seine gegenwärtige, gewöhnliche Fähigkeit hinausführt. Man kann sagen, dass der Lehrer bei einer Übertragung quasi die Verhärtungen des Herzens aufweicht und die Verschlossenheit des Geistes aufbricht. Manchmal braucht es Jahre, bis man das selbst in seiner Tragweite realisiert, aber es verändert einen grundlegend. Es bewegt sich entlang der Notwendigkeit von einem äußeren Guru hin zu einem inneren Guru. Und hier ist mit dem „inneren Guru bzw. Lehrer“ nicht eine bloße Bezeichnung für altkluge Weisheiten des gewöhnlichen Geistes gemeint, sondern der Zugang zur eigenen Natur des Erkennens.


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