Das Papageienkind

Von Groegge85 @Groegge85

„Ruf endlich die Polizei, Stefan“, verlangte Sarah und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. „Es geht mir auf den Nerv. Sie streiten den ganzen Tag, hörst du das nicht?“

Stefan bemühte sich um Gelassenheit. „Du malst den Teufel an die Wand“, sprach er und spitzte aufmerksam seine Ohren. Vom Fenster aus hatte man die beste Akustik für das Geschehen eine Etage tiefer. „So schlimm ist es doch gar nicht.“

„Einen größeren Feigling hab ich nie gesehen.“ Sarah stand von der Couch auf und baute sich mich verschränkten Armen hinter ihm auf. „Pausenloses Geschrei und du rührst keinen Finger. Ich muss verrückt gewesen sein, als ich mich mit dir eingelassen habe.“

Stefans Wohnung war nicht besonders groß; die vierzig Quadratmeter wirkten wie eine Abstellkammer unter dem Dach. Vom Sofa bis zu dem alten Röhrenfernseher konnte man bequem mit den Füßen auf den Stromschalter drücken und das Bett hinter der Säule versank unter der Schräge. Manchmal fühlte Stefan sich in seinem Heim wie in einer Telefonzelle gefangen. Im Moment jedoch konnten ihm die Wände gar nicht eng genug beieinander stehen.

Er fühlte sich meilenweit entfernt von der Liebe seines Lebens.

„Das meinst du nicht so“, versuchte er die Lage zu beruhigen. Wieder spürte er die Panik in sich aufsteigen, das Krabbeln in der Magengegend, das ihm den Mund trocken werden ließ, wenn er glaubte, Sarah zu verlieren. „Du liebst mich.“

„Das Geschrei deiner Nachbarn ist unerträglich, Stefan. Mach dir keine falschen Vorstellungen. Ich gehe nicht mit Feiglingen.“

Sarah konnte so hässlich sein, wenn sie wütend auf ihr war. Ihr Blick durch die zusammengekniffenen Augen bohrte sich in Stefans Eingeweide.

„Hör doch hin, sie haben aufgehört“, verteidigte er sich. „Was willst du denn, das ich tue? Ich mag die Beiden. Wir sind nicht unbedingt befreundet, aber sie sind nett zu mir.“

„Und das Kind?“ protestierte Sarah. „Hörst du es nicht schreien? Oder ignorierst du es einfach?“

Stefan wollte etwas zu seiner Verteidigung sagen, doch das Gepolter unterbrach ihn.

Eine Etage tiefer begann der Tanz von vorne.

Das Geschrei des Kindes schwoll an wie eine Sirene bei einem Luftangriff. Erst leise, dann immer lauter, brüllte es sich die Seele aus dem Leib. Eine schimpfende Frauenstimme mischte sich in das Chaos ein.

„Du Arschloch! Das ist deine Tochter! Deine Verantwortung! Krieg endlich deinen Arsch hoch!“

„Du bist schuld!“ antwortete eine wütende Männerstimme, gedämpft durch den Fußboden. „Hättest du besser aufgepasst, dann hätten wir das verdammte Problem nicht!“

Ein lauteres Poltern quittierte den Vorwurf; Stefan dachte an Stühle, Geschirr und Bücher, die durch die Wohnung gepfeffert wurden.

Was auch immer hatte sagen wollen, die Worte blieben ihm trocken im Hals stecken.

Sarah zog die Augenbraue hoch, ihr Blick war finster.

„Was auch immer dein Problem ist, krieg es in den Griff“, seufzte sie kopfschüttelnd. „Derweil warte ich auf einen Mann mit ein bisschen Mumm in den Knochen.“

„Sarah, sei doch nicht so“, probierte Stefan sie zu beschwichtigen, aber da war es schon zu spät.

Sie hatte ihre Jacke vom Haken genommen, bevor Stefan zur Tür hechten konnte.

„Melde dich, wenn du deine Eier gefunden hast.“

Damit fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Ihre Schritte hallten durch das Treppenhaus, bis im Erdgeschoss die Haustür zuschlug.

Stefan sah ihr durch das Fenster hinterher. Ihre graue Silhouette wanderte die Straße hinab. An ihrem Ende lag die Bushaltestelle, die Stefan so fürchtete; für ihn war sie das Loch, durch das Sarah ihm irgendwann für immer entschlüpfen würde.

Stefan ließ sich auf die Couch fallen.

Er seufzte und all sein Mut verflüchtigte sich ins Nichts.

Angst kroch in ihm auf, begleitetet von dem schreienden, zeternden Chaos aus dem Stockwerk unter ihm.

„Hören Sie, wie laut dieses Kind schreien kann? Unfassbar! Was für ein Organ!“ Mit dem Müllbeutel in der Hand stand Stefan auf der Treppe und lächelte gequält, während seine Vermieterin an der Tür der Nachbarn lauschte. Frau Schmeckler schien jeden Tag das selbe blaue Kleid zu tragen. Auch die Kette aus unechten Perlen legte sie nie ab; sie trug ihren Kitsch und fragwürdigen Geschmack stolz zur Schau. Ihre Hand hielt sie wie eine Flüstertüte ans Ohr, um besser die Wortfetzen über dem Kindergeschrei verstehen zu können.

„Ich sage Ihnen, das Mädchen ist ein echtes Stimmwunder. Die wird mal Opernsängerin. Sopranistin!“

„Oder Sängerin in einer Metalband“, schlug Stefan schulterzuckend vor.

Frau Schmeckler rollte die Augen. Wieder spürte Stefan, dass er, obwohl er pünktlich seine Miete zahlte, in diesem Haus nur geduldet wurde.

„Sarkasmus steht Ihnen nicht, Herr Gechtmann. Lassen Sie das. Das Mädchen kann bereits sprechen. In so jungen Jahren! Ich habe sie brabbeln hören. Herrlich! Und intelligent ist sie. Wenn Sie sich allein fühlt, plappert sie nach, was sie hört, wie ein süßer Papagei. Ein Wunderkind!“

Stefan rang sich ein Lächeln ab. „Aber stört es sie gar nicht?“ fragte er vorsichtig. „Das Geschrei, meine ich? Die Streitereien?“

„Seien Sie verdammt noch mal nicht albern“, erwiderte seine Vermietern scharf und entfernte einen Fussel von ihrem kostbaren Kleid. „Das ist junge Liebe. Leidenschaft, Emotion. Je schlimmer der Streit, desto süßer die Versöhnung. Das werden Sie auch noch lernen.“

„Meine Freundin hat sich aber schon beschwert.“

„Sie haben eine Freundin?“

„Sarah. Sie haben sie schon getroffen.“

„Ach, die.“ Frau Schmeckler machte eine abfällige Geste mit der Hand. „Das ist nicht Ihre Freundin.“

Stefan runzelte die Stirn. „Natürlich ist sie das, was soll das heißen? Wir lieben uns.“

„Ich bitte Sie, seien Sie nicht albern“, lachte die Vermieterin. Mit über dem gewaltigen Busen verschränkten Armen inspizierte sie Stefan von oben bis unten, der sich mit dem Müllbeutel in der Hand plötzlich winzig klein fühlte. „So ein Mädchen? Was könnten Sie der schon bieten. Nicht mal den Abfall bringen Sie pünktlich runter. Suchen Sie sich eine andere, Herr Gechtmann, bevor sie Ihnen das Herz bricht.“

Ein gemeines Schmunzeln huschte ihr über die Lippen bei Stefans sprachlosen Gesichtsausdruck. Achselzuckend nickte sie ihm zu und watschelte dann mit wabernden Hüften die Treppe ins Erdgeschoss, wo ihre Katzen schon an der Schwelle auf sie warteten.

„Und bringen Sie endlich den Müll weg“, rief sie ihm noch zu, bevor die Wohnungstür zu viel, „es stinkt grässlich im Flur!“

Am Abend saß Stefan auf dem Sofa, das Handy am Ohr. Stumm geschaltet flackerte der Fernseher vor sich hin, als konzentriere er sich ebenso darauf, was am Ende der Leitung passierte wie Stefan selbst.

Es klingelte. Drei Mal dröhnte ihm das tonlose Tuten in die Ohrmuschel, bevor Sarahs Mailbox ansprang. Stefan konnte die Bandansage auswendig mitsprechen. Seine Lippen formten die Worte in der Hoffnung, dass sie doch noch an ihr Handy ging, doch dann kam der Piep.

Stefan legte auf.

Er wollte nicht noch eine Nachricht hinterlassen. Seine große Liebe hielt ihn bereits für einen Schlappschwanz; er wollte ihr nicht noch mehr Gründe liefern, indem er jetzt verzweifelt wirkte. Kraftlos legte er das Telefon auf den Tisch und ließ sich nach hinten fallen.

Sie kannten sich seit einem Jahr. Auf einer Party eines gemeinsamen Freundes hatten sie sich kennengelernt, waren bei einem Bier ins Gespräch gekommen. Sechs Monate lang führten sie nun etwas, das Stefan seinen Freunden wiederholt als Beziehung verkaufte, auch wenn er ähnliches nie aus Sarahs Mund zu hören bekommen hatte. Allein ihr Anblick brachte ihn zum Lächeln. Der erste Kuss hatte den Nagel in den Sarg getrieben – Stefan war hoffnungslos verliebt.

Nur die erste gemeinsame Nacht ließ noch auf sich warten.

Glück bedeutete für ihn schon, in ihrer Nähe sein zu können und zwischendurch einen schüchternen Kuss zu ergattern. An guten Abenden verbrachten sie die Zeit eng umschlungen und knutschend auf der Couch oder dem Bett; doch immer, wenn er sich weiter vor wagte, schob sie seien Hand dezent aber bestimmt in die andere Richtung.

Was, wenn Frau Schmeckler Recht hatte?

„Du Arschloch! Das ist deine Tochter! Deine Verantwortung! Krieg endlich den Arsch hoch!“

Unter seinem Fußboden war wieder das Chaos ausgebrochen. Stefan knirschte mit den Zähnen. Den halben Tag hatten sie es geschafft, sich zusammenzureißen – jetzt ging das Theater von vorne los.

„Hättest du besser aufgepasst, dann hätten wir das verdammte Problem nicht!“

Stefan ballte die Faust. Wie konnten die Beiden nur so eine Energie haben? Hatten sie nichts anderes zu tun?

Das reicht, dachte Stefan. Sarah hatte Recht. Das konnte so nicht weitergehen. Ihm war egal, was seine Nachbarn oder seine Vermieterin sagen würden – er lebte schließlich auch in diesem Haus. Er hatte ein Recht darauf, ungestört Zeit mit seiner Freundin verbringen zu können.

Zeit, sich selbst den Zahn zu ziehen und ein paar Takte mit den Nachbarn zu reden.

Fest entschlossen stampfte er die Treppe runter. Die schweren Schritte gaben ihm Kraft. Das Geländer wackelte. Im Flur baute er sich vor der braunen Tür auf und überlegte kurz, was er sagen wollte. Als er alles beisammen hatte, war es soweit.

Er klopfte.

Das Pochen auf dem Holz ließ ihn zusammenzucken. Er hatte keine Ahnung, warum ihm die Konfrontation so ein flaues Gefühl im Magen verursachte. Er stand doch nur für sein Recht ein? Die Vorstellung, wie sein Nachbar die Tür öffnete und ihn verschlafen anblickte, jagte jedoch einen Keil in die Brust. Es fühlte sich an, als würde er am offenen Herzen operiert. Käfer krabbelten unter seiner Haut. Er glaubte, Schritte zu hören.

Nichts tat sich.

Stefan klopfte ein zweites Mal, aber mit weniger Überzeugung als zuvor. In der Wohnung herrschte Stille. Plötzlich war das Gezeter verstummt und er stand alleine im Flur. Hatten sie ihn bemerkt und aufgehört?

Er wollte ein drittes Mal an die Tür klopfen, als er ein Heulen hörte. Ein erbärmliches Schluchzen drang aus der Wohnung, erst leise und dann immer lauter werden. Es war das Kind. Es weinte. Stefan musste genau hinhören, aber es war da.

Sein Herz rutschte ihm in die Hose. Mit einem Schlag wich ihm die Kraft aus den Armen und seine Hände sanken wieder herab. Seine Entschlossenheit verflüchtigte sich.

Ich kann das nicht, dachte Stefan. Nicht mit einem weinenden Baby.

Das kleine Mädchen hatte ihn gehört und Angst bekommen. Egal wie laut und anstrengend das Geschrei seiner Eltern sein mochte – das Kind war es gewöhnt. Der Stress des Streits brachte es vielleicht zum Heulen, doch für das Baby war es mehr wie das Heulen mit den Wölfen.

Stefan war der Fremdkörper. Er störte.

Stefan drehte sich wieder um. Noch während er die Treppe nach oben zu seiner Wohnung erklomm, wunderte er sich, wie schön und kraftvoll selbst das verängstigte Schluchzen des Kindes geklungen hatte.

„Du Arschloch! Das ist deine Tochter! Deine Verantwortung! Krieg endlich deinen Arsch hoch!“

Stefan schnellte wie ein Springmesser im Bett auf und stieß sich prompt den Kopf an der Dachschräge. Taumelnd sank er zurück auf das Kissen und tastete seine Stirn nach der Beule ab, die bald daraus hervor wachsen würde. Er hatte von einem Erdbeben geträumt, einem zitternden Boden und durch die Wohnung fliegende Schränke und Tische. Gänsehaut perlte sich auf seinem Arm. Mit vom Schlaf verklebten Augen tastete er nach seinem Handy, um die Uhrzeit abzulesen, als er entdeckte, was seinen Traum durchgerüttelt hatte.

„Das ist deine Schuld! Hättest du besser aufgepasst, hätten wir das verdammte Problem nicht!“

Es war immer dasselbe um diese Uhrzeit. Unter ihm stritten sie ohne Pause, ohne Luft zu holen. Aber das Poltern kam diesmal nicht von seinen Nachbarn. Es kam vom Nachttisch.

Das Handy vibrierte.

Stefan schielte auf das Display, wo eine grüne Sprechblase ihn über eine neue Kurznachricht informierte. Sie war von Sarah.

„Hast du mit deinen Nachbarn gesprochen? Wir müssen reden. Komme um neun.“

Stefans Herz rutschte auf kürzestem Wege in seine Schlafanzughose. Plötzlich legte sich ein schwitziger Film über seine Fingerspitzen und er hörte den eigenen Puls im Kehlkopf pochen.

Wir müssen reden. Worüber?

Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Immer noch desorientiert kämpfte Stefan sich aus dem Bett. Seine Zehen kräuselten sich erschrocken, als seine nackten Füße auf das eisige Parkett trafen. Er prüfte noch mal den Stand der Uhr und stellte fest, dass es schon kurz vor Acht war. Sarah legte wert auf Pünktlichkeit; die Busse fuhren immer nach Plan, wie sie an Bord saß. In einer Stunde würde sie auf der Matte stehen und Antworten verlangen.

Ein Stockwerk tiefer tobte das Schreiduell. Er hörte nicht die Worte selbst, nur die dumpfe Wut und den Hass, gefiltert durch seinen Fußboden. Es musste jetzt sein, dachte er. Ihm blieb nicht viel Zeit. Mut, Selbstrespekt – das waren die Begriffe, die er sich zuflüsterte. Das Erdbeben, von dem er geträumt hatte – er konnte sich nicht länger davor fürchten, Wellen zu schlagen. Nicht, wenn er Sarah nicht verlieren wollte. Sie verlangte nach einem Tsunami, der sie mit sich riss.

Stefan duschte zügig und streifte die auf dem Boden liegenden Klamotten von gestern über. Für Frühstück blieb keine Zeit. Die Uhr saß ihm im Nacken.

Mit grimmiger Entschlossenheit stieg der die Treppe hinab.

Frau Schmecklers Anblick erschütterte ihn. Etwas schien das Blut aus ihrem Gesicht gesaugt zu haben, sie war bleich wie eine Wand. Falten der Sorge kräuselten sich auf ihrer Stirn. Unruhig fummelte sie an ihren unechten Perlen, wie an einem schützenden Rosenkranz.

„Oh Gott, Herr Glechtmann“, stammelte sie unsicher, während ihre Augen zwischen Stefan, der die Treppe herunter kam und der Tür der Nachbarn hin und her huschten. „Was ist passiert?“

Stefan unterdrückte den Wunsch, ihr einen miesen Kommentar rein zu drücken nur, weil er merkte, dass etwas nicht stimmte. Seine Vermietern tat auf einmal so, als könne sie ihn leiden – sonst nutze sie jede Gelegenheit, ihn ihre Missbilligung spüren zu lassen.

„Wovon reden Sie?“

„Haben Sie nichts gehört? Nichts auffälliges?“

Stefan schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, dass sie aufgehört haben zu schreien.“

„Mein Nachbar“, würgte Frau Schmeckler ängstlich hervor und ihre Perlen klickten zwischen ihren nervösen Fingern, „er hat eben angerufen. Er hat etwas gesehen.“

Stefan zuckte mit den Schultern. „Was denn?“

„Er war sich ganz sicher. Er sagt, es sah aus wie Blut.“

Ein fader, unappetitlicher Geschmack breitete sich wie ein Pelz in Stefans Mund aus.

„Wahrscheinlich war das nur Tomatensoße“, krächzte er, plötzlich mit trockener Kehle. Er glaubte sich selbst kein Wort. „Falls es wirklich Blut ist, sollten wir die Polizei rufen.“

„Die brauchen ewig, bis sie hier sind. Ich habe den Schlüssel hier. Bitte, gehen Sie rein und sehen nach, ob alles in Ordnung ist.“

Schlüssel klimperten und Frau Schmeckler hielt den Bund in der Hand.

„Warum ich? Sie sind doch die Vermieterin…“

„Seien Sie nicht so ein Feigling“, raunte die alte Frau zornig, doch in ihrem rauen Ton schwang echte Angst mit. Der Anruf des Nachbarn schien sie ernsthaft erschrocken zu haben.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und wich zwei Schritte zurück, als könne sie jede Sekunde der Teufel von hinter der Tür anfallen.

Stefan schluckte. Sarah war auf dem Weg hier her. Den Morgen hatte er sich anders vorgestellt. Zögernd drückte er die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt weit. Er schaute in die Wohnung.

Der Flur war dunkel und leer.

„Scheint alles in Ordnung zu sein“, sagte er.

„Rufen Sie, wenn Sie etwas finden“, sagte die Vermietern und drückte Stefan durch die Tür. „Ich rufe dann die Polizei.“

Ehe er reagieren konnte, zog sie die Tür von draußen zu.

Er war alleine in der Wohnung. Seit Tagen schon hatte sich ein erbärmlicher Gestank durch das Treppenhaus gezogen. Hier schlug er ihm nun mit voller Härte entgegen. Volle Müllbeutel stapelten sich neben der Garderobe. Mehrere Schuhpaare lagen verstreut auf den Fliesen; zwei winzige Kinderschühchen standen daneben. Die Wohnung war dunkel. Seine Nachbarn schätzten ihre Privatsphäre; sie verdunkelten die Fenster mit schwarzen Tüchern und Jalousien. Stefan war unheimlich.

„Frau Schmeckler schickt mich“, sagte Stefan in die dunkle Leere der Wohnung. Er fühlte sich unglaublich allein. „Geht es euch gut?“

Keine Antwort.

„Der Nachbar von gegenüber hat angerufen. Es sei etwas bei Euch passiert. Wo seid ihr?“

Keine Antwort.

Einfach nur Stille.

Von seinem letzten und einzigen Besuch bei seinen Nachbarn über ein paar Bier anlässlich seines Einzugs ahnte Stefan in der Dunkelheit des Flurs die drei Türen, die von dort in den Rest der Wohnung führten. Linker Hand würde ihn die Tür in die spärlich eingerichtete Küche mit dem Linoleum und dem Gartenklapptisch führen, wo das Geschirr sich meist wochenlang stapelte; rechts ab gelangte man ins Wohnzimmer, wo der Großteil des Familienlebens sich auf dem Sofa vor dem alten Röhrenfernseher abspielte. Vorbei an der Garderobe, am Ende des Flurs, lag das Kinderzimmer.

Sein zaghaftes Klopfen an der Wohnzimmertür verhallte unbeantwortet. Als er sich nach einigem Zögern entschloss, einen Blick zu riskieren, polterte ein Stapel schmieriger Pizzakartons vom Couchtisch und leerte seine Reste auf dem Teppich aus. Die vom ranzigen Käse verursachten Fettflecken fielen im allgemeinen Chaos aus Bierflaschen, Aschenbechern und Babynahrung nicht weiter auf. Stefan bemerkte einen Haufen Bücher, der wild im Zimmer verteilt lag und offenbar aus dem Regal neben der Tür gerissen und als Wurfgeschoss umfunktioniert worden war. Am Sofarücken sammelten sich die Bücher um das heruntergerissene Poster einer Metal-Band, der Stefan schon öfter durch den Fußboden hatte lauschen müssen. Offenbar stritten seine Nachbarn handfest.

Stefan sorgte sich plötzlich um das Kind.

Die Untersuchung der Küche stellte er hinten an und ging stattdessen in das Kinderzimmer.

Auf den ersten Blick wirkte das Zimmer klamm und kalt, leer geräumt und kahl wie nach einem Umzug, wenn die neuen Tapeten noch auf sich warten lassen. Die Jalousie vor dem Fenster war heruntergezogen, nur ein kleiner Spalt stand noch offen. Trübes Tageslicht kroch darunter hervor und malte einen Streifen auf das Parkett. In der hintersten Ecke gegenüber der Tür, in den Schatten versteckt, schlummerte ein Laufstall, wie man ihn im Katalog eines Möbelhauses und später auf dem Sperrmüll findet.

Ein leises Rascheln war aus der Ecke zu hören.

Zwei große, braune Kulleraugen fixierten Stefan aus dem Halbschatten heraus. Was er für ein Stofftier gehalten hatte, bewegte sich plötzlich. Ein kleines Händchen umklammerte einen Gitterstab. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr dem jungen Mann. Das Kind lebte. Er sah, wie es neugierig den Kopf in Richtung des Fremden streckte, der eben sein Zimmer betreten hatte. Das kleine Mädchen gab keinen Ton von sich. Mit leicht geöffnetem Mund starrte es Stefan an, sicher eingekuschelt zwischen einer Wachmannschaft aus Teddybären und Schmusedecken.

„Es ist alles in Ordnung, Kleines“, flüsterte er ihr beruhigend zu. „Ich sehe nur kurz nach deinen Eltern. Bleib schön, wo du bist.“

Das Kind antwortete nicht. Stefan nahm das zum Anlass, vorsichtig die Tür wieder zu schließen. Er ließ sie einen kleinen Spalt offen stehen, nur für den Fall.

Dann wandte er sich in Richtung Küche.

In Richtung des Geruchs.

Ein Lufterfrischer war dringend nötig, etwas, dass den Geruch verwehte. Das ungute Gefühl in seiner Magengrube konnte genauso gut von dem Gestank kommen, dachte Stefan, aber etwas ließ ihn nicht daran glauben. Es war still; zu still. Im Bad nebenan hörte er einsam einen Wasserhahn tropfen.

Alles ist gut, dachte er. Bis er die Pizzasoße bemerkte.

Sie quoll unter dem Türschlitz der Küche hervor, breitete sich in einer Lache auf den Fliesen aus.

„Emma? Chris?“ Es gab keine Antwort. Stefan öffnete die Tür, unsicher, was ihn dahinter erwarten würde.

Es war keine Pizzasoße.

Zuerst kam der Schock. Dann die Übelkeit. Dann die Panik.

Die Küche war nicht groß genug, um den Horror der Szene zu tragen. Sie war so winzig, dass es beinahe banal und willkürlich wirkte. Außer einem schmuddeligem Plastiktisch und zwei Stühlen hatte mehr nicht hineingepasst. Und jetzt war da auch noch all das Blut.

Emma lag direkt vor seinen Füßen. Ihr dunkles Haar breitete sich in einem Fächer vor ihm aus, nass und verklebt von dem roten Körpersaft. Ihre reglosen Augen starrten entsetzt an die Decke. Aus der Mitte ihrer Brüste, die Stefan heimlich immer beäugt hatte, ragte triumphierend der Griff eines Küchenmessers. Um den Einstich herum war das T-Shirt der Metal-Band, die sie sooft hörte, aufgeweicht und an ihrer Haut festgeklebt.

Chris lehnte einen halben Schritt weiter an der gegenüberliegenden Wand. Der Plastikstuhl war über ihn gefallen; er sah aus wie ein Betrunkener, der am Bahnhof in der eigenen Kotze schlief, beinahe friedlich. Wären da nicht der verschmierte Pizzaschneider neben ihm und der klaffende Krater, der sich von einem Ohr zum anderen durch seinen Hals zog.

Sie waren tot. Mausetot.

Stefan wollte flüchten, aber sein Körper verweigerte ihm den Dienst. Er stand wie angewurzelt da, unfähig, den Blick von dem Gemetzel abzuwenden.

„Frau Schmeckler“, rief er, doch er brachte nur ein erbärmliches Jaulen hervor. Seine Stimme versagte.

Endlich gelang es ihm, seinen Fuß zu bewegen. Schmatzend zog er ihn aus der Blutlache und machte einen Schritt rückwärts. Immer noch konnte er seine Augen nicht von den leblosen Körpern nehmen, auch wenn er deutlich das beunruhigende Klingeln im Hinterkopf spürte.

Etwas stimmte hier nicht.

Schließlich siegte seine Neugier über den Schock. Das Blut. Er bückte sich, schluckte den Ekel herunter und drückte seinen Finger in die dunkelrote Masse.

Ein Stück Blut blieb an ihm kleben, baumelte wie ein Fetzen herab. Das Blut war trocken. Er sah sich Emmas Wunde an und merkte, dass sie nicht frisch war.

„Was ist hier passiert?“

Stefan erstarrte, als er das Geräusch hörte. Langsam richtete er sich wieder auf. Er lauschte. Er hörte es wieder. Vorsichtig ging er zurück in den Flur. Sein Bauch erfror zu Eis.

Es kam aus dem Kinderzimmer.

Stimmen.

„Du Arschloch! Das ist deine Tochter! Deine Verantwortung! Krieg endlich deinen Arsch hoch!“

Stefans Hände zitterten, als er durch den geöffneten Spalt in den Raum sah.

Das Baby stand aufrecht in ihrem Bettchen.

Sie klammerte sich an den Gitterstäben fest. Sie drehte ihren Kopf zu Stefan und sah ihn an. Dann sprach sie.

Stefan rannte aus der Wohnung.

„Das ist deine Schuld!“ rief es ihm hinterher. „Hättest du besser aufgepasst, hätten wir das Problem nicht!“

Pünktlich um kurz vor Neun setzte der Bus Sarah an der gewohnten Haltestelle ab, nur ein paar Meter zu Fuß zu Stefans Wohnung. In ihrer Handtasche schlummerte eine fein gefalteter Zettel mit Notizen, deren Inhalt ihm nicht gefallen würden. Ihr Herz wog schwer in der Brust; trotz allem mochte sie Stefan sehr.

Sie bog um die Häuserecke und stieß beinahe mit dem Notarzt zusammen.

Zwei Polizeiautos mit Blaulicht parkten neben einem Krankentransporter direkt vor dem Haus. Nachbarn und Passanten hatten sich zu einer Mauer aus Gaffern versammelt; durch den Schwall von Unruhe und erschrockenem Flüstern hörte Sarah das Jaulen von Stefans Vermieterin, der alten Hexe.

Eilig winkte sie Sarah zu sich, als sie sie sah. Die feuchten Flecken auf ihrem Busen hielt Sarah zunächst für Wasser, bis sie die verquollenen, erschrockenen Augen der Vermieterin sah und wusste, dass es sich um Tränen handelte.

„Was ist passiert?“ verlangte Sarah zu wissen. Ihre Hand klammerte sich an ihrer Handtasche.

„Gott, Kindchen“, jaulte Frau Schmeckler und legte ihr in einer tröstenden Geste die Hände auf die Wangen. „Es ist furchtbar. Einfach nur furchtbar.“

„Zum Teufel, wovon reden Sie?“

„Es ist grausam. Er ist doch so in dich verliebt!“

Zwei Männer in roten Overalls schoben eine Trage aus der Eingangstür zum Krankenwagen.

„Stefan!“ rief Sarah.

Die Ärzte zögerten und hielten an.

„Um Gottes Willen, was ist mit ihm passiert?“ Die Gestalt auf der Trage rührte sich kaum. Ihre Gesichtsfarbe war ins Weiß gewichen.

„Schock“, stellte einer der Nothelfer fest. „Er scheint vor irgendetwas Angst zu haben. Wie haben keine Ahnung, wovor.“

Stefans Hand bewegte sich.

Sarah kam näher; sein Gesicht war bleich, die Augen starrten weit aufgerissen in den Himmel. Er flüsterte etwas.

„Stefan, was hast du gesagt?“ Sarah war besorgt. „Sag es nochmal.“

„Das Kind“, stammelte er. „Es war die ganze Zeit das Kind!“