Es war ein Herbsttag, an dem die Sonne nochmals ihre Gunst zeigte, und ich sass auf dem Bänkchen und schaute den Spaziergängern zu, die in recht großer Zahl auf dem Weg vor meinem Sitzplatz vorbeiflanierten. Der Weg war schon etwas außerhalb der Stadt und hinter dem Bänkchen war etwas Zivilisationswald – aber der Spazierweg war geteert, damit die Kinderwägen darauf gut rollen mögen.
Als eine Weile niemand mehr vorbeikam, reckte ich mich etwas und um meinen Hals zu dehnen blickte ich nach links und rechts hinten, so fest ich meinen Kopf zu wenden vermochte. Bei dieser Übung fiel mir etwas im Schwarzdornbusch neben dem Bänkchen auf. Es lag auf dem Boden, rot, etwas verschmutzt, aber ungewöhnlich. Nein, ich gehöre nicht zu den Leuten, die alles hier und dort aufheben, um zu prüfen, ob dies und das noch verwendbar wäre. Aber dieses kleine rote Paket machte mich neugierig.
Ich holte mir das Ding aus dem Gebüsch und legte es neben mich, auf das Bänkchen. Das Paket war kaum grösser als eine Zigarettenschachtel, und das Papier war ein wenig wie Plastik – als ob der frühere Besitzer den Inhalt vor Nässe und der Erde hätte schützen wollen, und so feuerrot, dass es wirklich nicht verborgen bleiben konnte.
Nun kam eine Familie vorbei, und ihr näher kommendes Gespräch, die verspielten Kinder, die dreirädrige Bauweise des Kinderwagens – all das lenkte mich von meinem Fund ab. Als sie dann vorbei waren, wandte ich mich wieder der Kostbarkeit zu und begann vorsichtig die Klebstreifen loszuklauben und faltete das Papier auseinander. Im Innern lag eine kleine Kartonschachtel aus marmoriertem Papier und ich hob vorsichtig den Deckel. Pralinen vielleicht? Oder Kakerlaken? Oder gar nichts? Zigaretten vielleicht, Rauschgift oder radioaktiver Müll?
Im Innern lag ein kleines Buch mit weinrotem Ledereinband.
Etwas erstaunt, fast verlegen, öffnete ich das Buch in der Mitte. Eine kleine, kolorierte Tuschzeichnung war auf der Seite. Es zeigte einige Herbstzeitlosen, verblühte Schafgarben und andere Blumen und während ich noch beeindruckt die feinen Federstriche betrachtete, hatte ich den Eindruck, die Blumen zu riechen. Aber das schnuppern am Büchlein war ergebnislos – und trotzdem war da etwas. Ich schnupperte in der Luft und roch die Walderde, noch Feucht vom Regen der letzten Nacht, ich roch das Harz der Bäume, und das Parfüm der Dame, die mit ihrem Partner vorbeispazierte. Ja die ganze Umgebung schien jetzt plötzlich von Düften erfüllt zu sein – aber mit dem Bild schien das nicht zusammenzuhängen.
Ich blätterte weiter und es fiel mir eine Skizze auf, die eine Landschaft in der Abendsonne zeigte, die zarten Aquarellfarben betonten die romantische Stimmung. Nachdem ich mit leicht zusammengekniffenen Augen das Bildchen betrachtet hatte, blickte ich wieder auf, mein Blick glitt in die Ferne. Plötzlich war ich berauscht von der Schönheit der Natur, von dem gleißenden Licht, von den Farben der Umwelt – das Blau der Kinderjacken, das Grün der Tannen, das Braun des Ackers. Das Buch machte mir nun fast Angst, zumindest Respekt.
So möchte ich zeichnen können, so möchte ich schreiben können, dachte ich, dass die Welt für den Leser plötzlich aufgeht.
Ich steckte das Buch ein, und ging dann nach einer Weile heim – umhüllt von Farben und Düften. Zuhause in der Badewanne hielt ich das Buch wider in Händen. Diesmal öffnete ich es zuvorderst. „Meine Gedanken und Skizzen“ stand da, und darunter in schönen Lettern „Hannah Schnehfuss“. Wer das wohl war? Was für ein altertümlicher Name! Ob das Buch wirklich alt ist? Es mochte ja noch nicht sehr lange dort im Laub gelegen haben. Aber allein die Lektüre dieser ersten paar Zeilen erfüllten mich mit einer inneren Wärme und einem Glücksgefühl, dass ich das Buch auf den Badezimmerstuhl legte, und einfach diesen inneren Frieden genoss.
Ich nahm es dann mit, als ich mich ins Bett legte und blätterte eine Seite weiter. Da waren viele flüchtige Skizzen von einem Feldhasen, einmal kauernd, dann hoppelnd, hier horchend und dort Haken schlagend. Aus diesem Hasen schien mich nun eine so wohlige Müdigkeit zu durchströmen, dass ich das Buch weglegte und das Licht ausknipste. Ich schlief sofort ein. Aber noch nie hatte ich in einer einzigen Nacht so viele wundervolle Träume! Und bei all den spannenden und liebevollen Erlebnissen schien es mir so, als wäre ich im Traum bewusst und hellwach!
Wie neu geboren wachte ich am nächsten früh Tag auf, und blickte in der Morgendämmerung noch lange an die Decke. Dann erinnerte ich mich an das Büchlein und wollte es wieder nehmen, aber es war verschwunden. Vielleicht bin ich nachts aufgewacht und habe es verlegt. Leider kam es nicht mehr zum Vorschein.
Aber – All diese zauberhafte Klarheit der Farben, die feinen Geräusche, das Gefühl der Wärme und des Friedens, und die Klarheit der Formen, die Intensität der Gerüche – all das begleitet mich bis heute. Ob man vielleicht selber so ein rotes Büchlein ist?
Schwarz / 10cm x 15cm / Mischtechnik auf Papier / 2010, Nr.10-123