Das Ngöndro aus Sicht des Dzogchen – Teil 4

Von Rangdroldorje

Ein Kommentar von S.H. Dudjom Rinpoche

Vajrasattva

Als nächstes kommt die Reinigung durch Vajrasattva. Im absoluten Sinne gibt es nichts zu reinigen, niemanden, den man reinigen könnte und keine Reinigung. Aber weil wir anscheinend unfähig sind, es dabei zu belassen, werden die Dinge ein bisschen kompliziert. Hindernisse und dualistische Verwirrung erscheinen als die Konsequenz unseres Festhaltens an den Ausdrucksformen von Leerheit. In der illusorischen Wahrnehmung dieses Greifens nach den Ausdrucksformen von Leerheit unterliegen wir selbst einer endlosen Unzufriedenheit. Aufgrund dessen wird Reinigung als ein relatives geschicktes Mittel benötigt. Um unsere Täuschungen entsprechend zu reinigen, erscheint Vajrasattva-Yab-Yum aus unserem wahren Zustand von Rigpa. Der Nektar fließt vom geheimen Mandala ihrer Vereinigung herab und reinigt vollständig unsere Hindernisse. Man tritt in diese Vergegenwärtigung ein und rezitiert das 100-Silben-Mantra. Dies ist die Bedeutung von Reinigung. Aber dennoch ist im natürlichen Zustand der Dinge, im Zustand, so wie es ist, von Anfang an alles rein – wie der Himmel. Dies ist die absolute Reinigung durch Vajrasattva.

Mandala

Nun kommen wir zur Mandala-Opferung oder zur Opferung des Kosmogramms. Mandalas werden zur Ansammlung von Glück bringenden Ursachen geopfert. Warum ist es für uns notwendig, Glück bringende Ursachen anzusammeln? Aufgrund unseres Greifens nach den Ausdrucksformen von Leerheit ist überall dieses illusorische Samsara. Daher müssen wir das Aufgeben all dieser Ausdrucksformen üben. Obwohl es die Illusion gibt, dass es einen Weg des Reinigens der Illusion gibt, können wir diese Übung als ein relatives geschicktes Mittel anwenden. Weil man reinigen kann, gibt es ebenso einen Weg zur Ansammlung Glück bringender Ursachen. Wenn man den eigenen Körper, Besitz und allen Ruhm opfert, ist dies das relative symbolische Mandala-Opfer. Von einem absoluten Standpunkt aus sind diese Dinge leer wie der klare leere Himmel. Wenn man im Zustand des uranfänglichen Gewahrseins verweilt, dann ist das absolute Mandala-Opfer und die absolute Ansammlung von Glück bringenden Ursachen.

Guru-Yoga

Dann kommt die Praxis des Guru-Yoga. Entsprechend unserem Festhalten an den Ausdrucksformen der Leerheit erscheint der Guru als derjenige, der die Reinheit des Geistes erweckt. Er oder sie ist das Objekt, dem gegenüber sich rein fühlt. Weil das Festhalten den Geist blockiert und weil man dem Guru gegenüber eine reine Wahrnehmung empfindet, scheinen sowohl man selbst wie auch der Guru in der Sphäre des Dualismus zu existieren, so als ob die grundlegende Natur des eigenen Geistes in der Sphäre des Dharmakaya getrennt wäre. Daher visualisiert man äußerlich mit großer Hingabe den Guru. Dann erhält man die Ermächtigung seines oder ihres ungetrennten Zustandes.
Dies sind alles äußere, relative Übungen des Guru-Yoga, in denen man die Weisheitspräsenz des symbolisch erschienen Guru anruft. Dann rezitiert man die Vajra-Worte: „Der Guru löst sich in Licht auf und wird eins mit mir. Man erkennt, dass der eine Geschmack von Rigpa-Leerheit das eigentliche Gesicht des Gurus ist.“
Wenn man fragt, wo der absolute Guru ist, dann ist er oder sie nirgendwo anders als hier – in der absoluten Natur des Geistes! Der absolute Zustand von Rigpa ist dort, wo der Guru vollständig als uranfängliche Weisheit und klarer Raum vollendet ist. Einfach mit dem Gewahrsein fortzusetzen, wie es ist, ist die Dzogchen-Praxis des Guru-Yoga.
So bezieht sich das äußere Ngöndro auf das innere Ngöndro hinsichtlich der Belehrungen des Ati-Yoga.

Kolophon:
Dies wurde von Ngak’chang Rinpoche aus den mündlichen Belehrungen, die von S.H. Dudjom Rinpoche, Jigdral Yeshe Dorje gegeben wurden, dem höchsten Haupt der Nyingma-Schule im Exil von Tibet, niedergeschrieben. Erweitert durch die Antworten auf die Fragen, welche von Ngak’chang Rinpoche in privaten Audienzen gestellt wurden, bezugnehmend auf das kurze Ngöndro des Dudjom Tersar. Boudhanath, Kathmandu/Nepal, 1979.

© Aus dem Englischen ins Deutsche von Ngak’chang Rangdrol Dorje im Jahr des Eisen-Tigers (2010) übersetzt.