Das neue Gesinde des Hauses Deutschland

Die spätviktiorianische Popkultur, in der wer leben.
Wenn man eine Sozialgeschichte des viktorianischen Bürgertums und seines Gesindes liest, erfährt man von arbeitenden Menschen, die keinen Dank oder gar eine angemessene Bezahlung erhalten haben. Sie mussten ihren Dienst unsichtbar erledigen und es kam nicht selten vor, dass die Herrschaften nicht mal wussten, wie ihr Personal eigentlich heißt. Man wollte es auch nicht wissen, um möglichst Distanz zwischen sich und diese Unterprivilegierten zu bekommen. Viele stolze Männer und Frauen zerbrachen und litten. Denn hätten sie aufgemuckt, wären sie auf alle Zeit gesellschaftlich geächtet gewesen. Wir sind dabei, diese Sozialgeschichte neu zu schreiben, indem wir diese Gesellschaft zu einem Haushalt machen, in dem es von domestic workers, wie dieser Stand im Englischen viel trefflicher heißt, nur so wimmelt.
Das neue Gesinde des Hauses DeutschlandLetztens erzählte mir ein Kurier, dass er nicht nur beschissen bezahlt werde, bei seinem Boss um allerlei gesetzlich garantierte Sozialstandards ringen müsse, sondern von den Leuten, die er beliefere, gar nicht als vollwertiger Mensch betrachtet würde. Sie sehen ihn nicht an, machen ihm nicht den Weg frei, obwohl er schwer beladen taumelt, sagen nicht Bitte und nicht Danke, grüßen nicht und geben ihm stattdessen ein Gefühl dafür, dass er jetzt gerade ein Störenfried ist. Ein anderer Lieferant teilte mir ähnliche Erfahrungen mit. Als der Lieferanteneingang von jener Dame zugeparkt war, die beliefert werden sollte, und er sie fragte, ob sie geschwind ihren Wagen zur Seite fahren könne, sagte sie nur pikiert: Sie sind doch Dienstleister. Nehmen Sie doch den Hintereingang.

Mir fiel ein Buch ein, das ich vor vielen Jahren mal gelesen hatte. Den Titel habe ich vergessen. Darin ging es um die Arbeitsverhältnisse der "dienstleistenden Unterschicht" auf der Insel der viktorianischen Jahre. Wenn man überhaupt von Dienstleistern sprechen kann, denn es ging um allerlei entwürdigende Stellungen im und ums Haus. Um handymen und cleaner, um boot boys und gardener. Um Dienerinnen und Diener, Mägde und Knechte, Küchenmamsells und Haushälterinnen, Dienstboten und Stallburschen. Um das ganze Gesinde, das eine bürgerliche oder adlige Familie so unter ihren Fittichen hielt. Darin wurde beschrieben, wie diese Leute arbeiteten, lebten, schliefen, aßen und sozial wahrgenommen wurden. Zwar waren sie keine Sklaven, erhielten Geld für ihre Arbeit, waren aber nicht angesehen. Sie bekamen natürlich nur wenig Geld, gerade so viel, dass sie einige Groschen hatten; Kost und Logis wurde ja zudem verrechnet. Sie hausten in engen Kammern oder schliefen in der Küche auf einer Bank, in die die Herrschaften so gut wie nie kamen. Manches Herrenhaus hatte noch nicht mal einen eigenen Schlafraum für die Belegschaft, die aber im Haushalt leben musste.
Gut, so schlimm steht es um das Gesinde 2.0 in der Prüderie dieses neoliberalen Viktorianismus dann doch nicht. Keiner pennt in der Küche bei seinem Chef. Interessant, weil vergleichbar, ist eher, dass die damalige Oberschicht dieses Gesinde zwar brauchte, um nicht selbst Hand anlegen zu müssen. Es aber auch gleichzeitig als störenden Faktor im eigenen Haus, als Belästigung des eigenen Familienlebens wahrnahm. Daher entfremdete man das Gesinde von normalen Umgangsformen, sprach es nicht mit ihren Namen an und lehrte es, den Herrschaften immer schön brav aus dem Wege gehen. Bill Bryson schreibt in seiner ausgezeichneten Kurzgeschichte der alltäglichen Dinge, dass es Herrschaften gab, die ihrem Gesinde feste Vornamen gaben und diese auch auf deren Nachfolger übertrugen. So konnten dann sechs Köchinnen über vier Jahrzehnte lang allesamt Maggie gerufen werden und der Ablauf wurde nicht unnötigerweise gestört.
So in etwa geht man heute mit dem Hausgesinde der Deutschland AG, mit den Niedriglöhnern, die dienstleisten und beliefern, die anfahren und kochen, die bedienen und servieren, die putzen und richten, die kurz gesagt: sich an Tätigkeiten abschuften, die "bessere Menschen" nicht tun wollen, auch wieder um. Mit all den Dienstboten von Hermes bis GLS oder mit allen Küchenmädchen bei McDonalds bis Subway. Auch sie dürfen nicht aufmucken. Sonst ist man schnell pikiert und glaubt, da weiß einer nicht, wohin er gesellschaftlich gehört. Aufmüpfige domestic workers werden zwar nicht wie damals sozial geächtet, erhalten keinen Eintrag ins Arbeitsbuch; sie werden einfach nur durch Erteilung von (Langzeit-)Arbeitslosigkeit geächtet. Bis sie weich genug sind, wieder ihren Dienst anzutreten. Stolz als Ausdruck sich selbst zugestehender Würde, ist diesem heutigen Gesinde auch nicht möglich.
Gerade bei diesen Jobs, die die moderne Konsumwelt zum Massensymptom gemacht hat, bei Liefer- und Bringdiensten, kehrt sich das gesamte neoliberale Menschenbild hervor. Es ist ein spätviktorianischer Drang, die Welt wieder in Herren und Gesinde zu teilen, wobei die Kaste der Herren größer wurde, jeder bezahlende Kunde kurzzeitig eine Herrschaft auf Zeit sein darf. Eine Popkultur der hierarchischen Prüderie ist im Begriff, den Snobismus der Vergangenheit neu zu reaktivieren. Fortschritt ist dabei nur, dass der Laufbursche auch Herr sein kann, wenn er die Dienste eines Paketzustellers in Anspruch nimmt.
Wobei ist das wirklich so neu? Bryson schreibt unter anderem auch, dass gewöhnliche Arbeiter Diener hatten. "Manchmal hatten Diener Diener." Das war nach Bryson so, weil die Menschen damals im "Zeitalter der Diener" lebten. Und das, so glaube ich manchmal, bricht wieder an. Solche Jobs hat es freilich immer gegeben, aber die Geringschätzung mit der man ihnen begegnet, war nie zuvor so krass. Ich weiß letztlich, wovon ich rede - ich habe ja eine Weile Pizza geliefert. Das wenige Geld war schwer verdient, weil man an beinahe jeder Haustüre erfahren hat, dass man für den letzten Dreck gehalten wird.
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