Wenn es erst mal allen schlechter gehe, dann würde die soziale Frage wieder mit mehr Nachdruck beantwortet. So hört man das als Alltagsweisheit recht häufig. Und genau das ist Unfug. Denn wenn wir mehrheitlich in Not und Armut rutschen, dann ist es für Veränderungen zu spät.
Ich musste sofort ganz unwillkürlich an die Brüste von Rose Joad denken. Die hatte in John Steinbecks Roman "Früchte des Zorns" eine Totgeburt. Das war wenig verwunderlich, denn Rose war ein Martyrium widerfahren. Sie war die Tochter einer Farmerfamilie, die in den Vereinigten Staaten der Depressionsjahre nach Kalifornien aufbrach, um dort ihr Glück zu machen. Doch es erwartete sie nur Hunger und Misstrauen; sie verlor Angehörige und ihr Mann lief ihr davon. Letztlich kam ihr Kind tot zu Welt und was ihr davon blieb war ein kümmerlicher Milcheinschuss. In einer Hütte suchten die Joads Obdach und fanden darin einen Jungen und seinen Vater. Beide waren ausgehungert - der Mann jedoch so sehr, dass er dem Tode nahe war. Ihm etwas zu essen zu geben, war nicht möglich, sie hatten ja selbst nichts. Rose aber setzt sich zu ihm, bettet den Kopf des Mannes auf ihre Brust, fummelt sich die Brustwarze aus der Bluse und gibt ihm die Milch, die eigentlich für ihr Kind bestimmt war.
Nun war Steinbeck ein Schriftsteller mit sozialromantischen Hang. Er liebte es, die Menschlichkeit ins tiefste Jammertal zu verfrachten. "Früchte des Zorns" endet mit dieser Szene und Steinbeck drückte damit aus, dass die menschliche Hilfsbereitschaft unendlich ist. In seinem gesamten Werk sind viele seiner Charaktere unbeschreiblich arm, aber immer auch kollegial und edelmütig. Realist war Steinbeck nur in der Szenerie, in die er seine Romane ansiedelte; die Charaktereigenschaften seiner Figuren waren hingegen fast immer idealisiert. Das ist das Recht des Künstlers - eine Kopie der Wirklichkeit muss er nicht abliefern. Manchmal ist es nur eine Abstraktion der Realität. Aber realistisch betrachtet ist die Armut kein sehr nährreicher Boden, um ebendiese Armut zu stillen. Jorge Semprún hat diese Erkenntnis einst wesentlich realistischer gezeichnet - ich schrieb darüber vor gut zwei Jahren.
In die Gedanken zu Roses Brüsten, mischten sich Berichte, die ich über die Slums und Favelas gesehen hatte. Ich konnte mir eine Rose Joad dort nicht vorstellen. Aber ich hörte von Egoismus, von Gewalt und dem Recht des Stärkeren. Und ich nehme daher an, dass im wirklichen Leben die Armut keine Grundlage ist, um der Armut an den Kragen zu wollen. Von welcher Substanz soll der Einsatz gegen die Armut und der Kampf für mehr materielle Gleichstellung auch herkommen? Von welcher Energie soll man Kraft abzwacken?
Nee, Kumpel, habe ich geantwortet. Nee, wenn es uns allen schlechter geht, dann gibt es nur eine Wahrheit. Nämlich die: Dann geht es uns einfach allen schlechter. Und nichts, aber auch gar nichts, deutet darauf hin, dass es dann besser werden könnte.
Ich nehme nicht an, dass der Typ besonders viel von Hegel gelesen hatte. Gut, Hegel ist ja auch so gut wie unlesbar. Wer dem gesagt hat, er könne schreiben ... aber das ist eine andere Geschichte. Trotzdem argumentierte er quasihegelianisch. Bemühte des Philosophen Welterklärungsmuster namens List der Vernunft, also den Niedergang als Trick der Geschichte, um eine nächste Entwicklungsstufe zu erklimmen. Erst der Niedergang durch Massenarmut und dann der Aufschwung zur Teilhabe: Wenn das mal nicht so eine Vernunftslist sein soll!
Natürlich klingt das irgendwie auch logisch, was der Kerl da meinte. Und das meinen ja viele Menschen, nicht nur er. Sie wissen freilich auch, dass sie von den Reichen nichts zu erwarten haben. Die Reichen werden sicherlich nicht der Motor der sozialen Frage sein. Und das sehe ich nicht anders. Milliardäre werden sicherlich nicht gegen die Armut anrennen, denn das könnte bedeuten, dass sie schon bald keine Milliardäre mehr sind. Einen solchen Einsatz gibt die Ideologie des Reichtums nicht her. Nur wahr ist auch: Wer im täglichen Überlebenskampf steckt, zwischen der fragenden Ungewissheit, morgen überhaupt etwas zum Essen zu haben und der Furcht, ab nächsten Monat ohne Dach über dem Kopf zu sein, der hat andere Probleme als die soziale Frage. Wenn einem die eigene Existenz fraglich wird, werden abstrakte Fragen ausgeblendet.
Insofern ist die Verarmung auf Massenbasis nicht der Motor zu Verbesserung, sondern eine Abwärtsspirale, schafft ein immer egoistischeres Gemeinwesen, in dem die Armen nicht aufeinander blicken, sondern sich argwöhnisch beäugen. Die Not im KZ, so beschreibt es ja auch der oben genannte Semprún, hat nicht Solidarisierung der Notleidenden bewirkt, sondern einen Überlebenskampf untereinander entfacht. Und wer das Werk Bukowskis kennt, der hat eine konkrete Vorstellung davon, wie in der Unterschicht getreten und gekratzt wird, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Rettende Titten, wie jene von Rose, sind ein Märchen. Es gibt sie in Romanen - sonst nirgends. Reiche Gestalten haben sich milchspendende Ammen geleistet, sieche Bischöfe ließen sich säugen. Aber nie hat die Armut der Armut eine Amme gegeben. Edle Armut ist ein Ammenmärchen.
Ich habe das dem Kerl zu erklären versucht. Seine logische Frage war: Wer denn sonst? Der Plattner vielleicht oder der Hopp? Ich antwortete sinngemäß, dass es eigentlich Aufgabe wehrhafter Demokraten aus der Mitte der ganzen Substanz wäre. Aber die ist ideologisch so eingespannt in einen ökonomischen Biologismus, der lehrt, dass der Starke sich damit rechtfertige, dass er wirtschaftlich aufblüht und der Schwache schwach sei, weil er arm ist, dass auch dieses eigentlich natürliche Segment gesellschaftlicher Dynamikanschiebung ausscheidet. Der Kerl sagte Aha, drehte sich um und ging weg.
Die edle Armut, die die Armut säugt?
Erst kürzlich impfte mich so ein Kerl mit dieser These. Merklich gehe es allen schlechter, sagte er. Aber in Deutschland geschähe nichts, weil die Situation a) immer noch nicht schlecht genug sei und b) immer noch zu wenig Menschen litten. Massenweise Leid sei nämlich der Motor der Hilfsbereitschaft und letztlich der Treibstoff für soziale Veränderungen. Die Armut, die sich in die Mitte der Gesellschaft schleicht, würde demnach eine soziale Dynamik entwickeln. Wenn Armut ein Massenphänomen wird, dann wachen die Menschen endlich auf.Ich musste sofort ganz unwillkürlich an die Brüste von Rose Joad denken. Die hatte in John Steinbecks Roman "Früchte des Zorns" eine Totgeburt. Das war wenig verwunderlich, denn Rose war ein Martyrium widerfahren. Sie war die Tochter einer Farmerfamilie, die in den Vereinigten Staaten der Depressionsjahre nach Kalifornien aufbrach, um dort ihr Glück zu machen. Doch es erwartete sie nur Hunger und Misstrauen; sie verlor Angehörige und ihr Mann lief ihr davon. Letztlich kam ihr Kind tot zu Welt und was ihr davon blieb war ein kümmerlicher Milcheinschuss. In einer Hütte suchten die Joads Obdach und fanden darin einen Jungen und seinen Vater. Beide waren ausgehungert - der Mann jedoch so sehr, dass er dem Tode nahe war. Ihm etwas zu essen zu geben, war nicht möglich, sie hatten ja selbst nichts. Rose aber setzt sich zu ihm, bettet den Kopf des Mannes auf ihre Brust, fummelt sich die Brustwarze aus der Bluse und gibt ihm die Milch, die eigentlich für ihr Kind bestimmt war.
Nun war Steinbeck ein Schriftsteller mit sozialromantischen Hang. Er liebte es, die Menschlichkeit ins tiefste Jammertal zu verfrachten. "Früchte des Zorns" endet mit dieser Szene und Steinbeck drückte damit aus, dass die menschliche Hilfsbereitschaft unendlich ist. In seinem gesamten Werk sind viele seiner Charaktere unbeschreiblich arm, aber immer auch kollegial und edelmütig. Realist war Steinbeck nur in der Szenerie, in die er seine Romane ansiedelte; die Charaktereigenschaften seiner Figuren waren hingegen fast immer idealisiert. Das ist das Recht des Künstlers - eine Kopie der Wirklichkeit muss er nicht abliefern. Manchmal ist es nur eine Abstraktion der Realität. Aber realistisch betrachtet ist die Armut kein sehr nährreicher Boden, um ebendiese Armut zu stillen. Jorge Semprún hat diese Erkenntnis einst wesentlich realistischer gezeichnet - ich schrieb darüber vor gut zwei Jahren.
In die Gedanken zu Roses Brüsten, mischten sich Berichte, die ich über die Slums und Favelas gesehen hatte. Ich konnte mir eine Rose Joad dort nicht vorstellen. Aber ich hörte von Egoismus, von Gewalt und dem Recht des Stärkeren. Und ich nehme daher an, dass im wirklichen Leben die Armut keine Grundlage ist, um der Armut an den Kragen zu wollen. Von welcher Substanz soll der Einsatz gegen die Armut und der Kampf für mehr materielle Gleichstellung auch herkommen? Von welcher Energie soll man Kraft abzwacken?
Nee, Kumpel, habe ich geantwortet. Nee, wenn es uns allen schlechter geht, dann gibt es nur eine Wahrheit. Nämlich die: Dann geht es uns einfach allen schlechter. Und nichts, aber auch gar nichts, deutet darauf hin, dass es dann besser werden könnte.
Ich nehme nicht an, dass der Typ besonders viel von Hegel gelesen hatte. Gut, Hegel ist ja auch so gut wie unlesbar. Wer dem gesagt hat, er könne schreiben ... aber das ist eine andere Geschichte. Trotzdem argumentierte er quasihegelianisch. Bemühte des Philosophen Welterklärungsmuster namens List der Vernunft, also den Niedergang als Trick der Geschichte, um eine nächste Entwicklungsstufe zu erklimmen. Erst der Niedergang durch Massenarmut und dann der Aufschwung zur Teilhabe: Wenn das mal nicht so eine Vernunftslist sein soll!
Natürlich klingt das irgendwie auch logisch, was der Kerl da meinte. Und das meinen ja viele Menschen, nicht nur er. Sie wissen freilich auch, dass sie von den Reichen nichts zu erwarten haben. Die Reichen werden sicherlich nicht der Motor der sozialen Frage sein. Und das sehe ich nicht anders. Milliardäre werden sicherlich nicht gegen die Armut anrennen, denn das könnte bedeuten, dass sie schon bald keine Milliardäre mehr sind. Einen solchen Einsatz gibt die Ideologie des Reichtums nicht her. Nur wahr ist auch: Wer im täglichen Überlebenskampf steckt, zwischen der fragenden Ungewissheit, morgen überhaupt etwas zum Essen zu haben und der Furcht, ab nächsten Monat ohne Dach über dem Kopf zu sein, der hat andere Probleme als die soziale Frage. Wenn einem die eigene Existenz fraglich wird, werden abstrakte Fragen ausgeblendet.
Insofern ist die Verarmung auf Massenbasis nicht der Motor zu Verbesserung, sondern eine Abwärtsspirale, schafft ein immer egoistischeres Gemeinwesen, in dem die Armen nicht aufeinander blicken, sondern sich argwöhnisch beäugen. Die Not im KZ, so beschreibt es ja auch der oben genannte Semprún, hat nicht Solidarisierung der Notleidenden bewirkt, sondern einen Überlebenskampf untereinander entfacht. Und wer das Werk Bukowskis kennt, der hat eine konkrete Vorstellung davon, wie in der Unterschicht getreten und gekratzt wird, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Rettende Titten, wie jene von Rose, sind ein Märchen. Es gibt sie in Romanen - sonst nirgends. Reiche Gestalten haben sich milchspendende Ammen geleistet, sieche Bischöfe ließen sich säugen. Aber nie hat die Armut der Armut eine Amme gegeben. Edle Armut ist ein Ammenmärchen.
Ich habe das dem Kerl zu erklären versucht. Seine logische Frage war: Wer denn sonst? Der Plattner vielleicht oder der Hopp? Ich antwortete sinngemäß, dass es eigentlich Aufgabe wehrhafter Demokraten aus der Mitte der ganzen Substanz wäre. Aber die ist ideologisch so eingespannt in einen ökonomischen Biologismus, der lehrt, dass der Starke sich damit rechtfertige, dass er wirtschaftlich aufblüht und der Schwache schwach sei, weil er arm ist, dass auch dieses eigentlich natürliche Segment gesellschaftlicher Dynamikanschiebung ausscheidet. Der Kerl sagte Aha, drehte sich um und ging weg.